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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Lotusteich spannte. Doch ich konnte nicht sehen, was Shi Chongmings Aufmerksamkeit fesselte, bis ich schließlich eine steinerne Sitzbank mit einer Steinlaterne entdeckte, die neben dem Lotusteich stand.
    »Mr. Shi?«
    Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Dann tauchte er aus seiner Versunkenheit auf und bemerkte, dass ich ein Tablett in den Händen hielt. »Bitte.« Er nahm es mir ab. »Bitte, setzen wir uns doch und trinken den Tee.«
    Ich fand zwei ramponierte hölzerne Klappstühle, und wir ließen uns im Schatten am Rand des Steingartens nieder. Es war so heiß, dass meine Bewegungen sehr langsam ausfielen. Ich schenkte den Tee ein und reichte Shi Chongming einen Mochi auf einem kleinen Lacktablett. Er nahm das Tablett, dann die Gabel und zog sorgfältig eine Linie quer über das Gebäck, zerteilte es, so dass es in zwei Hälften zerfiel. Mochis haben eine blasse Farbe, bis sie geöffnet werden und eine schockierend scharlachrote Paste sichtbar wird, wie rohes Fleisch auf bleicher Haut. Shi Chongmings Miene veränderte sich kaum merklich. Er zögerte, bevor er höflich einen sehr kleinen Bissen an seine Lippen führte. Er kaute bedächtig und hatte Mühe zu schlucken, fast so, als hätte er Angst zu essen.
    »Sagen Sie«, begann er schließlich, nachdem er einen Schluck Tee getrunken und sich mit einem Taschentuch den Mund abgetupft hatte, »Sie wirken so viel fröhlicher als bei unserer ersten Begegnung. Sind Sie das? Sind Sie glücklich hier in Tokio?«
    »Glücklich? Keine Ahnung. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht.«
    »Sie haben eine Unterkunft gefunden.« Er deutete auf das Haus, auf die obere Galerie, in deren schmutzigen Fenstern sich ein paar Schäfchenwölkchen spiegelten. »Einen Ort, an dem Sie geborgen sind. Und Sie haben genug Geld.«
    »Ja.«
    »Und Ihnen gefällt Ihre Arbeit?«
    Ich blickte auf den Teller. »Es ist nicht schlecht.«
    »Sie sind in einem Nachtklub beschäftigt? Sie sagten, Sie würden abends arbeiten.«
    »Ich bin eine Hostess. Es ist nichts Aufregendes.«
    »Das glaube ich gern. Ich habe schon von diesen Nachtklubs gehört, und ich bin nicht so unwissend und alt, wie ich scheine. Wo arbeiten Sie? Es gibt da hauptsächlich zwei Viertel - Roppongi und Akasaka.«
    »Yotsuya.« Ich zeigte mit einer fuchtelnden Hand in die grobe Richtung. »Das große Gebäude in Yotsuya. Das schwarze.«
    »Ah ja«, sagte er gedankenverloren. »Ja, das kenne ich.«
    Etwas an seinem Tonfall ließ mich aufhorchen. Doch er sah mich nicht an; seine milchigen Augen starrten ins Leere, so als würde er über etwas höchst Verwirrendes nachgrübeln.
    »Professor Shi? Sind Sie gekommen, um mir von dem Film
    zu erzählen?«
    Er neigte den Kopf, der Blick noch immer leer. Es war kein Ja, und es war kein Nein. Ich wartete darauf, dass er fortfuhr, doch er schien für den Moment vergessen zu haben, dass es mich gab. Dann sagte er plötzlich ganz leise: »Wissen Sie, die Vergangenheit zu verbergen, ist gar nicht so schwer.«
    »Was?«
    Er musterte mich gedankenverloren, so als würde er nicht an Nanking denken, sondern sich eher über mich Gedan
    ken machen. Ich starrte ihn an, und mein Gesicht überzog sich mit Röte. »Was?«
    »Es ist gar nichts so Ungewöhnliches. Es ist ein Kunststück, das einzig Schweigen verlangt.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
    Er griff in seine Tasche und holte einen kleinen Origa-miKranich aus leuchtend rotem und purpurnem Washi- Papier hervor, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Sein Kopf war in den Nacken gelegt, seine Flügel waren dramatisch gespannt. »Sehen Sie sich das hier an - diesen makellosen Vogel.« Er stellte den Kranich auf meine Handfläche. Er war schwerer als gedacht, und ich bemerkte, dass der Fuß des Papiergebildes mit Gummibändern umwickelt war. Ich schaute Shi Chongming fragend an. Er nickte, ohne den kleinen Vogel aus den Augen zu lassen. »Stellen Sie sich einmal vor, dieses friedvolle Tier symbolisiert die Vergangenheit. «
    Ich starrte verständnislos auf den Kranich. Dann bemerkte ich, dass etwas geschah. Der Vogel bebte. Ich konnte sein Zittern auf meinem Handgelenk, meinen Armen, überall auf meiner Haut spüren. Die purpurnen Flügel vibrierten. Ich wollte gerade etwas sagen, als der Vogel zu explodieren schien. Aus seinem Innern sprang etwas Rotes und Beängstigendes: Die abscheuliche Fratze eines chinesischen Drachen schnellte hervor, und ich ließ ihn vor Schreck fallen und sprang auf. Mein Stuhl kippte um, und ich stand bebend

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