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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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die Frauen von Nanking versteckten. Ich beobachtete sie während unserer Unterhaltung über die Schulter des Professors hinweg. Sie waren wie üblich auf den Markt gekommen, doch sie hatten sich Tücher um die Köpfe gewickelt und ihre Gesichter mit Holzkohle geschwärzt. Sie bewegten sich gebückt wie alte Weiber, obgleich ich wusste, dass viele von ihnen jung waren. Schlagartig kochte Wut in mir hoch. Mir war klar, was sie von den Japanern befürchteten. Ich wusste, dass sie sich verkrochen wie Tiere im Winterschlaf. Doch musste das so sein? Muss sich der Charakter unseres Landes verändern? Wir, die Chinesen, ein ganzes Volk, eine feige, rückständige Nation, wir verlieren uns in unserer Landschaft. Laufen weg und verstecken uns. Verwandeln uns chamäleongleich in eine Million Umrisse, die in den ausgetrockneten Fels und Stein der Wüste Gobi geritzt ist. Wir werden lieber unsichtbar und versinken in unserem Land, als aufrecht zu stehen und den Japanern die Stirn zu bieten.
    17
    Jason erzählte, das Haus hätte der Mutter des Vermieters gehört, dass sie sehr krank geworden sei, vielleicht sogar verrückt, und die unteren Etagen mit der Zeit so verkommen seien, dass sie nunmehr unbewohnbar waren. Schwärme von Moskitos schwirrten um die vernagelten Fenster, und Svetlana behauptete, dass es dort unten Geister gebe. Sie erklärte uns, dass die Japaner an eine seltsame Kreatur, einen geflügelten Kobold glaubten - ein gefiederter Bergbewohner, den sie Tengu nannten, der Menschen entführe und sich so behände wie eine Motte bewege. Svetlana schwor, dass sie Rascheln im Garten gehört und beobachtet hätte, wie etwas Schweres durch die Dattelpflaumenbäume gepirscht war. »Ssssch!«, sagte sie dann und brach theatralisch mitten in der Geschichte ab, den Finger auf die Lippen gelegt. »Habt ihr das gehört? Von unten?«
    Jason lachte sie aus, Irina gab sich spöttisch. Ich schwieg. Was Gespenster anging, war ich nicht bereit, mich festzulegen. Ich liebte das Haus und seine Eigentümlichkeiten -ich hatte mich rasch an die abblätternden Wände, die muffigen, verschlossenen Zimmer, die Reihen von ausrangierten Kotatsu- Tischen in den Abstellkammern gewöhnt -, doch es gab Zeiten, dort in meinem Zimmer, so nah an dem verbarrikadierten Flügel, in denen ich mir wie die letzte Verteidigungslinie vorkam. Verteidigung wogegen? Die Ratten? Die Leere? Ich war nicht sicher. Ich hatte mittlerweile so lange allein gelebt, dass ich an die Leere gewöhnt sein sollte. Doch es gab in Takadanobaba Zeiten, in denen ich mitten in der Nacht starr vor Angst aufwachte, überzeugt davon, dass gerade jemand an meiner Zimmertür vorbeigegangen war.
    »Etwas wartet hier«, bemerkte Shi Chongming, als er das
    Haus zum ersten Mal betrat. Er hatte an dem Tag, nachdem Fuyukis Bande im Klub gewesen war, angerufen. Er wollte mich sehen. Das gefiel mir - seine Wortwahl: Er wollte mich sehen. Ich lief aufgeregt umher, besorgte Tee und Kuchen und räumte mein Zimmer auf. Jetzt stand er im Korridor, auf seine stocksteife Art, die Hände neben dem Körper, den Blick starr auf den dunklen Gang gerichtet. »Etwas wartet darauf, enthüllt zu werden.«
    »Es ist sehr alt.« Ich brühte in der Küche grünen Tee auf. Dazu sollte es Mochi geben - kleine, in halb durchsichtiges Papier eingewickelte Kuchen mit Bohnenpastenfüllung. »Ich wünschte, ich hätte es sehen können, als es gerade gebaut war. Es hat das -Kanfo-Erdbeben überlebt und sogar die Bombardierung. Viel ist hier geschehen. Sehr viel.«
    Ich arrangierte die bleichen Mochi auf einem kleinen Lacktablett und löste vorsichtig das Papier, in das sie eingewickelt waren, so dass die Hüllen sich öffneten wie Blütenblätter, die verborgene dicke Staubgefäße freigaben. Ich hatte noch nie etwas Japanisches zubereitet und keinen Grund zu glauben, dass Shi Chongming es zu würdigen wissen würde. Aber ich wollte es richtig machen und verwendete viel Zeit darauf zu entscheiden, wo genau ich die Teekanne auf dem Tablett platzieren sollte. Ein Mann isst zuerst mit seinen Augen, lautet ein japanisches Sprichwort. Jeder Gegenstand muss genauestens betrachtet und die Wirkung auf seine Nachbarn eingehend studiert werden. Ich arrangierte die kleinen japanischen Tassen - mehr Schalen denn Tassen - neben der Kanne, nahm das Tablett, trat auf den Korridor hinaus und sah, dass Shi Chongming vor den Fensterläden stand, die Hände erhoben, als wollte er die Wärme fühlen, die durch sie hindurchdrang. Sein Gesicht

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