Tokio
dunkel und still. Alle halbe Stunde schalten wir das Radio an. Die Nachrichten sind widersprüchlich - eine verwirrende Mischung aus Propaganda und Fehlinformation. Wer weiß, was stimmt?
Wir können nur raten, was passiert. Von Zeit zu Zeit höre ich das Rumpeln von Panzern auf der Zhongshan-Straße und gelegentlich auch Schüsse, doch alles scheint weit entfernt und unterbrochen von so langen Phasen der Stille, dass meine Gedanken manchmal abschweifen und ich für kurze Augenblicke vergesse, dass feindliche Truppen in unsere Stadt einmarschieren.
Gegen elf Uhr vernahmen wir etwas, das möglicherweise Granatenbeschuss gewesen sein könnte, und einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Dann folgten entfernte Explosionen, eine, zwei, drei, vier, Schlag auf Schlag, worauf wieder Ruhe einkehrte. Zehn Minuten später erscholl in unserer Gasse ein Höllenlärm. Ich ging zur Rückseite des Hauses, spähte durch einen Fensterladen und bemerkte eine Ziege, die sich losgerissen hatte und jetzt in Panik ziellos durch die Hinterhöfe rannte, willkürlich ausschlug und Bäume und Wellblechhütten attackierte. Sie zermalmte unter ihren Hufen die verrottenden Granatäpfel des Sommers, bis der aufgewühlte Schnee aussah, als wäre er blutgetränkt. Niemand kam, um die Ziege einzufangen, die Besitzer mussten bereits aus der Stadt geflohen sein, und es dauerte zwanzig Minuten, bis sie ihren Weg hinaus auf die Hauptstraße fand und sich abermals Stille auf unsere Gasse herabsenkte.
22
Von jener Nacht an begann Jason, mich zu beobachten. Er
entwickelte die Angewohnheit, mich unverhohlen anzustarren, wenn wir vom Nachtklub nach Hause gingen, wenn ich kochte oder einfach wenn wir alle zusammen im Wohnzimmer vor
dem Fernseher saßen. Manchmal drehte ich mich um, um die Zigarette eines Kunden anzuzünden, und Jason stand nur wenige Schritte entfernt und sah mich an, als würde ihn insgeheim alles, was ich tat, amüsieren. Es war gleichzeitig schrecklich, beängstigend und erregend - mich hatte noch nie jemand so angesehen, und ich konnte mir nicht vorstellen, was ich tun würde, wenn er sich mir je näherte. Ich erfand Ausreden, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Es wurde Herbst. Die brütende Hitze, das heiße Metall, die Kochdünste und der Abwassergestank von Tokio machten einer kühleren, nüchterneren Stadt Platz. Der diesige Himmel wurde klar, die Ahornbäume färbten sich rostbraun, und urplötzlich war der Geruch von Holzfeuer allgegenwärtig, so als wären wir zurückversetzt in das alte Tokio im Vorkriegsjapan. Von der Galerie aus konnte ich meine Hand ausstrecken und reife Dattelpflaumen vom Ast pflücken. Die Moskitos verschwanden aus dem Garten, und das machte Svetlana traurig. Sie sagte, jetzt wären wir alle dem Tod geweiht.
Und noch immer war Fuyuki nicht in den Klub gekommen.
Shi Chongming war so stur, so verschlossen wie immer, und manchmal sah ich meine Chancen, je den Film zu sehen, schwinden. Eines Tages, als ich es nicht länger ertragen konnte, fuhr ich mit dem Zug nach Akasaka und
rief von einer Telefonzelle aus die Nummer auf Fuyukis Visitenkarte an. Die Krankenschwester - ich war sicher, dass es die Krankenschwester war - meldete sich mit einem femininen
»Moshi moshi«, und schlagartig verließ mich aller Mut.
»Moshi moshi?«, wiederholte sie, doch ich hatte es mir bereits anders überlegt. Ich knallte den Hörer auf die Gabel und eilte aus der Telefonzelle, ohne mich noch einmal umzudrehen. Vielleicht hatte Shi Chongming Recht gehabt, als er sagte, ich würde niemals Seide aus einem Maulbeerblatt spinnen.
Bei Kinokuniya, der großen Buchhandlung in Shinjuku, kaufte ich alle Bücher über Naturheilkunde, die ich finden konnte. Außerdem erstand ich einige chinesisch-japanische Wörterbücher und eine Sammlung von Artikeln über die Yakuza. Während ich die nächsten Tage weiter darauf wartete, dass Fuyuki im Nachtklub auftauchte, schloss ich mich viele Stunden in meinem Zimmer ein und las über die chinesische Naturheilkunde, bis ich alles über Bian Ques Moxibustion und Akupunktur mit Steinnadeln, über Hua Tuos frühe Operationen und Experimente mit Narkose wusste. Alsbald kannte ich die
»Spiel der fünf Tiere «-Übungen des Qi Gong aus dem Effeff und konnte die Taxonomie der Kräuter aus Shen Nongs Materia Medica auswendig aufsagen. Ich las Abhandlungen über Tigerknochen und Schildkrötengelee sowie die Gallenblasen von Bären. Ich ging zu Kampo-Läden und besorgte mir kostenlose Proben von
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