Tokio
Bitte - Sie sind heute nicht aus Höflichkeit hergekommen, sondern mit Ideen - es steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Setzen Sie sich.«
Zögernd trat ich an den Schreibtisch und nahm ihm gegenüber Platz, die Hände im Schoß gefaltet.
»Nun?«, fragte er. »Was gibt es?«
Ich seufzte. »Ich habe nachgelesen«, erklärte ich, »über chinesische Naturheilkunde.« »Gut.«
»Es gibt da einen Mythos, eine Sage von einem Gott, dem
göttlichen Bauern, der die Pflanzen in Klassen unterteilt. Ich hab doch Recht, oder nicht?«
»Geschmack, Temperatur und Eigenschaft. Ja. Sie reden von Shen Nong.«
»Ich muss also entscheiden, in welche Klasse Fuyukis Medizin gehört. Ich muss sie einer Kategorie zuordnen.«
Shi Chongming sah mich durchdringend an.
»Was?«, entfuhr es mir. »Was habe ich denn gesagt?«
Er seufzte und lehnte sich zurück; seine Hände lagen auf dem Schreibtisch, und er trommelte sacht mit den Fingerspitzen gegeneinander. »Es ist an der Zeit, dass ich Ihnen ein bisschen mehr über mich erzähle.«
»Ja?«
»Ich will nicht, dass Sie Ihre Zeit vergeuden. Sie sollten wissen, dass ich eine ganz bestimmte Vermutung hege, was es ist, wonach wir suchen.«
»Dann brauchen Sie mich also gar nicht, um ...«
»Ah.« Er lächelte. »Doch, ich brauche Sie.«
»Warum?«
»Weil ich nicht hören will, was ich zu hören erwarte. Ich will nicht, dass ein Papagei zu mir zurückkehrt und mir unterwürfig sagt: >Ja, Sir, ja, Sir, Sie hatten die ganze Zeit über Recht, o Weiser.< Nein. Ich will die Wahrheit wissen.« Er zog eine abgewetzte Mappe aus dem Bücherstapel auf seinem Schreibtisch. »Ich habe zu lange hier dran gearbeitet, um jetzt einen Fehler zu machen. Ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen. Aber ich werde Ihnen nicht sagen, was genau ich vermute.«
Er zog eine Hand voll vergilbter und mit einem ausgefransten schwarzen Band zusammengehaltener Dokumente aus der Mappe. Büroklammern und zerknüllte Taschentücher purzelten mit heraus.
»Ich habe lange gebraucht, bis ich Fuyuki aufgespürt habe - länger, als ich für möglich gehalten hätte - und viele, viele Dinge über ihn herausgefunden habe. Hier.« Er schob mir das Bündel Papiere zu. Ich starrte es an, ein großer, unordentlicher Haufen, der drohte, auf den Boden zu kippen. Die Dokumente waren in Chinesisch und Japanisch verfasst, offizielle Briefe, fotokopierte Zeitungsausschnitte; ein Blatt schien ein Memo auf Notizpapier eines Regierungsamtes zu sein. Ich erkannte das Kanji für das Oberkommando der Landstreitkräfte.
»Was ist das?«
»Das Ergebnis von Jahren unermüdlicher Recherche, lange
bevor mir erlaubt wurde, nach Japan zu reisen. Briefe, Zeitungsartikel und - vielleicht das Riskanteste, was ich getan habe - Berichte von Privatdetektiven. Ich erwarte nicht, dass Sie sie verstehen, aber Sie müssen wissen, wie gefährlich Fuyuki ist.«
»Das haben Sie bereits erwähnt.«
Er lächelte versonnen. »Ja. Ich verstehe Ihre Skepsis. Er wirkt wie ein sehr alter Mann. Vielleicht sogar freundlich, gütig.«
»Man kann nicht sagen, wie jemand wirklich ist, bis man
sich eine Weile mit ihm befasst hat.«
»Interessant, nicht wahr? Der mächtigste Sarakin-Kiedit- Hai in Tokio, einer der größten Produzenten und illegalen Importeure von Methamphetaminen - bemerkenswert, wie harmlos er wirkt. Aber lassen Sie sich nicht täuschen.« Shi Chongming beugte sich vor und sah mich eindringlich an. »Er ist völlig gewissenlos. Sie haben keine Vorstellung, wie viele für sein Ziel, Amphetaminrouten zwischen hier und den armen koreanischen Häfen einzurichten, ihr Leben lassen mussten. Und das vielleicht Faszinierendste ist die Sorgfalt, mit der er die Leute auswählt, mit denen er sich umgibt. Er hat eine einzigartige Methode - es steht alles in den Unterlagen da, wenn man versteht, zwischen den Zeilen zu lesen. Was für ein geschickter Drahtzieher er doch ist! Er durchforstet die Zeitungen nach Festnahmen, sucht sorgfältig gewisse Kriminelle aus und finanziert ihre Verteidigung. Wenn sie der Verurteilung entgehen, sind sie Fuyuki lebenslang verpflichtet.«
»Kennen Sie ...«, ich beugte mich dichter heran und senkte instinktiv meine Stimme, »... seine Krankenschwester?«
Shi Chongming nickte grimmig. »Ja, das tue ich. Seine Krankenschwester, sein Leibwächter. Ogawa. Die Leute fürchten sie zu Recht.« Er senkte ebenfalls die Stimme, so als könnten wir belauscht werden. »Sie müssen wissen, dass Mr. Fuyuki Sadisten
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