Tokio
bevorzugt. Jene, die kein Verständnis von Gut und Böse haben. Seine Krankenschwester steht wegen ihrer kriminellen Energie in seinen Diensten, wegen ihrer absoluten Unfähigkeit, Mitleid mit ihren Opfern zu empfinden.« Er deutete auf den Unterlagenstapel. »Wenn Sie sich die Zeit nehmen, die Unterlagen zu studieren, werden Sie feststellen, dass die Sensationspresse sie die Bestie von Saitama nennt. Ihre Methoden haben sie in Japan zu einer lebenden Legende gemacht, zum Gegenstand unermüdlicher Spekulation.«
»Ihre Methoden?«
Er nickte und kniff in seine Nase, so als wollte er ein Niesen oder eine Erinnerung unterdrücken. »Gewalt«, erwiderte er seufzend und ließ seine Hand sinken, »ist natürlich ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltags in der Yakuza. Vielleicht ist es in Anbetracht ihrer geschlechtlichen Verwirrung nicht überraschend, dass sie sich dazu getrieben fühlt ...«, sein Blick wanderte kurz zu einem Punkt über meinem Kopf, »... ihre Verbrechen auszuschmücken.«
»Auszuschmücken?«
Er antwortete nicht, schürzte stattdessen die Lippen und meinte im Plauderton: »Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen, aber es heißt, sie wäre ungewöhnlich groß?«
»Etliche Leute im Klub halten sie für einen Mann.«
»Nichtsdestotrotz ist sie eine Frau. Eine Frau mit einer - ich kenne den Fachausdruck dafür nicht -, einer Erkrankung des Skeletts, vielleicht. Aber genug davon. Lassen Sie uns nicht unseren Vormittag mit Spekulationen vergeuden.« Er musterte mich eindringlich. »Ich muss es wissen. Sind Sie ganz sicher, dass Sie weitermachen wollen?«
Ich schüttelte mich kaum merklich, während mir ein Schauder über den Rücken lief. »Nun«, sagte ich schließlich und rieb meine Arme, »nun, offen gesagt, ja. Das ist es ja gerade, verstehen Sie, dies ist die wichtigste Sache in meinem Leben - seit neun Jahren, acht Monaten und neunundzwanzig Tagen, und ich habe nicht ein einziges Mal daran gedacht aufzugeben. Manchmal glaube ich, es ist den Leuten lästig.«
Ich überlegte einen Moment, dann sah ich ihn an. »Ja, das ist es. Es ist den Leuten lästig.«
Er lachte und klaubte seine Unterlagen zusammen. Während er sie zurück in die Mappe steckte, fiel sein Blick auf ein Foto, das ganz unten im Stapel verborgen lag. »Ah«, sagte er fast beiläufig und zog es heraus. »Ah, ja. Das könnte Sie vielleicht interessieren.« Er schob das Bild über den Schreibtisch, wobei seine schmale braune Hand es halb verdeckte. Ich konnte in der oberen rechten Ecke einen offiziellen Stempel ausmachen, das Kanji für Polizeibehörde, erkannte ein Polizeiabsperrband und ein Auto mit offen stehendem Kofferraum. Es lag etwas darin, etwas, das ich nicht sehen konnte, bis Shi Chongming seine Hand wegnahm und ich begriff.
»Oh«, entfuhr es mir leise, und ich hielt instinktiv die Hand vor den Mund. Mir war, als wäre schlagartig alles Blut aus meinem Kopf gewichen. Das Foto zeigte einen Arm - einen menschlichen Arm mit einer teuren Armbanduhr -, der leblos aus dem Kofferraum hing. Ich hatte in der Universitätsbibliothek ähnliche Aufnahmen von Mafiaopfern gesehen, doch es war das, was unter dem Auspuffrohr lag, von dem ich meinen Blick nicht losreißen konnte. Beinahe rituell arrangiert, aufgerollt wie eine Boa Constrictor, lag dort ein Häufchen von ... »Sind das«, hauchte ich, »... ist es das was ich denke, dass es ist? Stammen die von einem Menschen? Sind das seine?« »Ja.«
»Haben Sie das mit ... >ausgeschmückt< gemeint?«
»Ja. Das ist einer von Ogawas Tatorten.« Er legte gelassen einen Finger auf das Foto und zog es zu sich über den Schreibtisch. »Eins der Verbrechen, das der Bestie von Saitama zugeschrieben wird. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkt, hat die Polizei bei der ersten Ansicht der Leiche nicht erkennen können, wie die - die Innereien entfernt worden waren. Ganz ehrlich, es erstaunt mich immer wieder, zu welchem Einfallsreichtum die Menschheit fähig ist, wenn es um Grausamkeit geht.« Er schob das Foto wieder in den Stapel und begann, die Mappe mit dem ausgefransten schwarzen Band zuzubinden. »Oh, und nebenbei bemerkt«, sagte er, »ich würde an Ihrer Stelle keine Zeit mit Shen Nongs Klassifizierungen verschwenden.«
Ich sah ihn verständnislos an. »Ich - ich - wie bitte?«
»Ich sagte, Sie sollen Ihre Zeit nicht mit Shen Nongs Klassifizierungen verschwenden. Es ist keine Pflanze, nach der Sie suchen.«
23
Ich fand keinen Schlaf mehr. Das Foto in Shi Chongmings Mappe ließ
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