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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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kehrte Stille ein, und ich wanderte mutterseelenallein die Zhongshan-Straße entlang.
    Endlich blieb ich stehen. Um mich herum rührte sich nichts. Selbst die Vögel schienen verstummt zu sein. Die gekappten Bäume zu beiden Seiten lenkten den Blick schnurgerade etwa eine halbe Meile in die Ferne, zu dem Punkt, wo die Wintersonne auf die drei Bogen des Zhong-shan-Tors schien. Ich verharrte mitten auf der Straße, holte tief Luft und reckte meine gespreizten Hände gen Himmel. Mein Herz hämmerte
    so laut, dass es bis hinauf in meinen Kopf zu pochen schien. Vibrierte der Boden unter mir, so wie bei einem entfernten Erdbeben? Ich sah auf meine Füße, und im gleichen Moment zerriss aus Richtung des Tors eine Explosion die Stille. Die Plantanen bogen sich wie in einem Sturm, und die Vögel flogen panisch flatternd auf. Flammen züngelten hoch, und eine Wolke aus Rauch und Staub schoss über dem Tor auf. Ich kauerte mich erschreckt nieder und hielt mir schützend die Hände über den Kopf, während eine weitere Explosion die Luft erschütterte. Dann folgte ein Geräusch wie entfernter Regen, wurde lauter und lauter, bis es zu einem Gebrüll anschwoll und der Himmel pechschwarz war. Staub und Schutt regneten auf mich herab, und ich sah vom rauchverhangenen Horizont zehn oder mehr Panzer auf mich zukommen, unerbittlich die Zhongshan-Straße entlangrollen -, und hinter ihnen flatterte die schreckliche Hi-No-Maru- Flagge im Wind.
    Ich sprang auf und jagte in Richtung meines Hauses davon, das Geräusch meiner Schritte übertönt vom Kettenrasseln der Panzer. Ich rannte, mit brennender Lunge und rasendem Puls, die ganze Zhongshan-Straße hinauf und dann weiter auf der Zhongyang-Straße, hetzte in eine Querstraße, die mich schließlich hinter Lius Haus vorbei und in meine Gasse führte, wo wenigstens der ständige Regen aus Staub und Schutt nachließ. Aus dem Haus war kein Laut zu hören. Ich hämmerte gegen die Tür, bis die Schlösser entriegelt wurden und Shujin vor mir stand und mich ansah, als wäre ich ein Gespenst.
    »Sie sind hier«, sagte sie, als sie mein Gesicht sah und merkte, wie außer Atem ich war. »Stimmt's?«
    Ich antwortete nicht, trat ein und schloss sorgfältig die Tür hinter mir, schob alle Riegel und Sperren vor. Dann, als sich mein Atem wieder beruhigt hatte, ging ich nach oben, räumte mir einen Platz zwischen den japanischen Wörterbüchern auf meinem Diwan frei, setzte mich und zog eine Steppdecke über die Füße.
    Und nun - was kann ich schreiben? Nur dass es geschehen
    und dass es schnell gegangen ist. An diesem kühlen, klaren Nachmittag haben sie Nanking eingenommen, so gleichgültig, wie ein Kind die Hand in die Luft reckt und eine Libelle zerquetscht. Ich habe Angst, aus dem Fenster zu spähen - die

    japanische Flagge muss inzwischen über allen Dächern der Stadt flattern.
    Nanking, 14. Dezember 1937,
    Vormittag (nach dem Mondkalender der
    zwölfte Tag des elften Monats)
    In der Nacht hat es geschneit, und jetzt ragt der Purpurberg, der mächtige Zijin, jenseits der Stadtmauern nicht weiß, sondern feuerrot auf. Die Flammen tauchen alles um ihn herum in die Farbe von Blut und werfen einen grausigen Schein gen Himmel. Shujin verbringt viel Zeit damit, in der offenen Tür zu stehen und ihn anzustarren, ihre Silhouette dunkel vor dem roten Himmel, umweht von der frostigen Luft, die hereinströmt, bis das Haus eiskalt ist und mein Atem dampft.
    »Siehst du?«, sagt sie und dreht sich steif zu mir um. Ihr Haar hängt offen über den Rücken, und in ihrem triumphierenden Blick lodert rotes Feuer. »Zijin brennt. Ist es nicht haargenau so, wie ich vorhergesagt habe?«
    »Shujin«, sage ich, »komm von der Tür weg. Es ist nicht
    sicher.«
    Sie gehorcht, doch es dauert seine Zeit. Sie schließt die Tür und setzt sich schweigend in die Ecke, drückt dabei die beiden Ahnenschriftrollen, die sie aus Poyang mitgebracht hat, an ihren Leib.
    Den größten Teil dieses Morgens habe ich mit einer Kanne Tee am Tisch gesessen, die Tür fest verbarrikadiert, während der Tee in der Tasse langsam kalt wurde. Letzte Nacht haben wir nur wenig Schlaf finden können, haben beide angezogen und mit Schuhen an den Füßen im Bett gelegen, für den Fall, dass wir flüchten müssten. Von Zeit zu Zeit setzte einer von uns sich auf und starrte auf die verriegelten Fensterläden, doch keiner sprach ein Wort. Und jetzt, obgleich es ein sonniger Tag ist, sind noch immer alle Fensterläden fest verschlossen und die Zimmer

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