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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Aaltran und Bärengalle aus Karuizawa. Ich suchte nach etwas, das alle Gesetze der Regneration und Degeneration auf den Kopf stellte - den Schlüssel zur Unsterblichkeit. Es war eine Suche, die, in der einen oder anderen Form, seit Anbeginn der Zeit stattfand. Selbst der unscheinbare Tofu, heißt es, war von einem chinesischen Kaiser auf seiner Suche nach Unsterblichkeit erfunden worden.
    Doch Shi Chongming sprach von etwas, auf das noch niemand gestoßen, das von einem Geheimnis umwittert war. Eines Tages nahm ich meine Farben und pinselte sorgfältig das Bild eines Mannes zwischen die Gebäude meines Wandgemäldes des Kriegszeit-Tokio. Sein Gesicht wurde zu einer Fratze, wie ein Kabuki-Mann, also malte ich ein Hawaiihemd und hinter ihm einen amerikanischen Wagen, die Art von Auto, wie Gangster sie fahren. Zu seinen Füßen verstreut zeichnete ich Medizinfläschchen, einen Destillierapparat, einen Glaskolben. Etwas so Kostbares - Illegales? -, dass niemand wagte, darüber zu sprechen.
    »Es ist wunderschön«, sagte Shi Chongming. »Oder nicht?«
    Ich starrte aus dem Fenster auf den Campus, auf die sich gold und rot färbenden Bäume. Das Moos auf dem Sporthallendach hatte sich in ein tiefes Purpurgrün verwandelt, sah aus wie eine unreife Pflaume, und von Zeit zu Zeit glitt eine gespenstische Gestalt in Kenc/o-Maske und -Gewand an den offen stehenden Türen vorbei. Die Rufe des Dojo hallten über den Campus und scheuchten die Krähen in riesigen Schwärmen in die Bäume. Es war wunderschön. Ich verstand nicht, warum es mir nicht gelang, es losgelöst aus seinem Kontext zu betrachten. Für mich war der Campus gefangen im Würgegriff der modernen Stadt, des machthungrigen Japan. Als ich weiter am Fenster verharrte, lachte Shi Chongming.
    »Sie gehören also auch zu jenen, die nicht vergeben können.«
    Ich drehte mich um und sah ihn an. »Vergeben?«
    »Japan. Dafür, was es China angetan hat.«
    Die Worte eines chinesisch-amerikanischen Historikers, dessen Bücher ich auf der Universität gelesen hatte, gingen mir durch den Sinn: Die Brutalität der Japaner übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Sie erhoben Grausamkeit zu einer Kunstform. Wenn es eine offizielle Entschuldigung gäbe, würde sie genügen, um uns vergeben zu lassen? »Warum?«, fragte ich. »Wollen Sie sagen, Sie hätten vergeben?«
    Er nickte.
    »Wie konnten Sie das?«
    Shi Chongming schloss die Augen, und ein leises Lächeln
    umspielte seine Lippen. Er schwieg lange, ehe er antwortete.
    »Wie?«, sagte er schließlich. »Eine gute Frage. Es scheint unmöglich, oder nicht? Aber ich hatte viele, viele Jahre Zeit, um darüber nachzudenken - Jahre, in denen ich mein Heimatland, ja mein eigenes Haus nicht verlassen konnte. Bis Sie nicht auf der Straße mit Steinen beworfen und in Ihrer Heimatstadt öffentlich an den Pranger gestellt wurden, behängt mit Propaganda ...« Er spreizte Daumen und Zeigefinger auf seiner Brust, und mir fielen augenblicklich die Fotos von der Kulturrevolution ein, mitleiderregende, kauernde Grüppchen von Männern, zusammengetrieben von der Roten Garde und
    mit Pappschildern um ihre Hälse, auf denen Slogans wie Intellektueller Verräter und Parteifeindliches Element standen.
    »... bis Sie das nicht erlebt haben, fehlt Ihnen das nötige Rüstzeug, um die menschliche Natur zu verstehen. Es dauerte sehr lange, aber ich habe schließlich eine ganz einfache Sache verstanden. Ich habe Unwissenheit verstanden. Je mehr ich es studierte, desto klarer wurde, dass ihr Verhalten seine Wurzeln in Unwissenheit hatte. Oh, sicher, es gab in Nanking Soldaten, eine Hand voll, die durch und durch schlecht waren. Das bestreite ich nicht. Aber die anderen? Ihre größte Sünde bestand in ihrer Unwissenheit. So einfach ist das.«
    Unwissenheit. Das war etwas, womit ich mich bestens auskannte. »Was sie in Ihrem Film getan haben. Meinen Sie das? War das Unwissenheit?«
    Shi Chongming antwortete nicht. Seine Miene wurde verschlossen, und er tat so, als wäre er mit irgendwelchen Unterlagen beschäftigt. Die Erwähnung des Films brachte ihn immer dazu, mir die kalte Schulter zu zeigen.
    »Ist es das, was Sie meinten? Professor Shi?«
    Er schob seine Unterlagen beiseite und räumte seinen Schreibtisch leer. »Kommen Sie her«, sagte er und winkte mich heran. »Lassen Sie uns jetzt nicht davon reden. Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir, warum Sie hier sind.«
    »Ich möchte wissen, was Sie meinen. Meinten Sie das, was sie getan ...«
    »Bitte!

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