Tokio
Vielleicht hatte sie sich verflogen oder war einfach nur! sehr, sehr erschöpft.
Ich hob den Kopf. Um mich herum drehten sich die Windmühlen der Steinkinder in der warmen Brise, und die höl-, zernen Gedenktäfelchen klackten und klapperten. Jedes, Mützchen, jedes Lätzchen, jedes Spielzeug, das die Statuen schmückte, stammte von einer Mutter, die hier gebetet hatte, so wie ich es gerade tat. Inzwischen war es hell geworden, und die ersten Pendler eilten zur Arbeit.
Jason, dachte ich, während ich aufstand und meinen Mantel abklopfte, Jason, glaub mir, du bist seltsamer und wahnsinniger, als ich es je gewesen bin. Ich holte ein paarmal tief Luft und blickte gen Himmel. Er hatte mich an etwas erinnert, das ich fast vergessen hatte. Es gab nur einen Weg für mich - es hatte immer nur diesen einen Weg gegeben.
37
Nanking, 20. Dezember 1937 (der
achtzehnte Tag des elften Monats)
Und so lernt man.
Als die Sonne aufging, hörte ich eine Weile Radio. Noch
immer keine offizielle Bekanntmachung, dass man sich wieder gefahrlos auf die Straße wagen konnte. Als es schließlich helllichter Tag war, trank ich eine Tasse Tee, zog mich leise an, knotete meine Steppjacke zu und schlüpfte hinaus in die Gasse. Eilig verbarrikadierte ich die Tür hinter mir und sah mich vorsichtig um. Es schneite. Kleine dünne weiße Flocken bedeckten den alten, schmutzigen Schnee. Ich schlich lautlos zwischen den Häusern hindurch und erreichte binnen weniger Minuten das Haus von Liu. Ich ging zur Hintertür und machte das verabredete Klopfzeichen. Nach einer Weile öffnete Lius Frau die Tür und trat wortlos beiseite, um mich hereinzulassen. Ihre Augen waren rot gerändert, und sie trug abgerissene dicke Männerkleidung über mehreren Schichten ihres eigenen Gewands.
Es herrschte bittere Kälte im Haus, und ich spürte die angespannte Atmosphäre. Als Liu in die Diele kam, um mich zu begrüßen, wusste ich sofort, dass etwas passiert war.
»Was ist los?«
Er antwortete nicht, winkte mich nur in ein kleines, voll gestopftes Zimmer, in dem sein Sohn mit hängendem Kopf hockte - ein Bild tiefsten Elends. Er trug eine Sun-Yat-sen-Jacke, die zerrissen von seinen schmalen Schultern hing und ihn zerlumpter denn je aussehen ließ. Auf dem Tisch
vor ihm lag ein dreckiger Sack, aus dem Buchweizen rieselte.
»Er war die ganze Nacht unterwegs«, erklärte Liu, »hat etwas zu essen mitgebracht.«
Ich starrte hungrig darauf. »Junger Liu, ich kann dich nur für deine Tapferkeit loben. Das sind in der Tat gute Neuigkeiten. Gute, gute Neuigkeiten.«
Lius Frau brachte Buchweizenklöße - einige in Musselin eingewickelt und in einen Dampfkorb aus Bambus gestopft, damit ich sie Shujin mitbringen konnte, und einen Teller für mich, zum sofortigen Verzehr. Sie stellte sie wortlos vor mich hin und verließ das Zimmer. Ich schlang die Klöße gierig hinunter, ohne mich hinzusetzen, und starrte dabei mit leerem Blick an die Decke. Trotzdem kam ich nicht umhin, die Spannung zwischen ihnen zu bemerken.
»Was«, sagte ich mit vollem Mund, »was ist los?«
Liu stieß den Fuß seines Sohns an. »Erzähl ihm, was passiert ist.«
Der Junge schaute mich an. Sein Gesicht war bleich und ernst. Es sah aus, als hätte er über Nacht seine Kindheit verloren. »Ich war draußen unterwegs«, flüsterte er.
»Ja?«
Er deutete mit seinem Kinn in Richtung Straße. »Dort draußen. Die ganze Nacht über bin ich durch die Stadt gegangen. Ich habe mit Leuten gesprochen.«
Ich schluckte den letzten Kloß hinunter. »Und du bist unversehrt zurückgekommen. Sind die Straßen sicher?«
»Nein.« Unvermittelt lief eine Träne über seine Wange. Mir sank der Mut. »Nein. Die Straßen sind nicht sicher. Die Japaner sind Teufel. Riben Guizi.« Er sah mit gequältem Blick zu seinem Vater. »Du hast mir gesagt, sie würden nur Soldaten töten. Warum hast du das gesagt?«
»Ich habe es geglaubt. Ich dachte, sie würden uns in Frieden lassen. Ich dachte, sie würden uns als Flüchtlinge betrachten. «
»Flüchtlinge.« Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen
weg. »Es gibt einen Ort für Leute, die sich Flüchtlinge nennen.«
»Bei der Universität«, sagte ich. »Bist du dort gewesen?«
»Nicht nur ich. Ich war nicht der Einzige, der dort gewesen ist. Die Japaner sind auch dort gewesen. Sie haben sie fortgeschleppt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie waren zusammengebunden.« Er bohrte seinen Finger in die weiche Stelle hinter seinem Schlüsselbein. »Sie haben
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