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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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einen Draht hier durchgetrieben und sie zusammengebunden wie - wie eine Perlenkette. Eine Perlenkette aus Menschen.«
    »Das hast du tatsächlich mit eigenen Augen gesehen? In der Flüchtlingszone?«
    Er rieb sich die Augen, hinterließ dabei schmutzige Streifen.
    »Ich habe alles gesehen. Alles. Und ich habe alles gehört.«
    »Sag mir«, wollte ich wissen und setzte mich auf einen der wackeligen Stühle, »hast du Schreie gehört? Vor einer Stunde. Die Schreie einer Frau. Hast du die gehört?«
    »Ich habe sie gehört.«
    »Weißt du, was los war?«
    »Ja.« Er sah zuerst seinen Vater an, dann wieder mich und kaute beklommen an seiner Lippe. Er kramte in seiner Tasche und holte etwas heraus, um es uns zu zeigen. Auf seinem Handteller lag ein japanisches Kondom. Ich nahm es und drehte es um. Es prangte das Bild eines Soldaten darauf, der mit gesenktem Bajonett vorwärts stürmte, und darunter stand das Wort Totsugeki. Angriff! Liu und ich sahen einander an. Sein Gesicht war grau und sein Mund verkniffen.
    »Vergewaltigung«, sagte der Junge. »Sie vergewaltigen Frauen.«
    Liu warf einen Blick zur Tür. Seine Frau war hinten im Haus und konnte es nicht gehört haben, trotzdem streckte er seinen Fuß aus und stieß die Tür zu. Mein Herz hämmerte dumpf. Als ich dreizehn war, hatte ich keine Ahnung, was Vergewaltigung bedeutete, doch dieser Junge benutzte das Wort ganz selbstverständlich, als wäre es etwas Alltägliches.
    »Mädchenjagden«, fuhr er fort. »Das ist die Lieblingsbeschäftigung der Japaner. Sie nehmen Kohlenlaster aus Xiaguan und suchen die Dörfer nach Frauen ab.« Er sah mich mit seinem schmutzverschmierten Gesicht an. »Und wissen Sie, was noch?«
    »Nein«, hauchte ich. »Was noch?«
    »Ich habe gesehen, wo der Yanwangye lebt.«
    »Yanwangye?« Angst schlich sich in mein Herz. Yan- wangye. Der Teufel. Der mächtigste der Höllenfürsten. Der Herrscher der buddhistischen Unterwelt. Gemeinhin würden Leute wie der alte Liu und ich ob solchen Volksglaubens nur unsere Augen verdrehen, doch etwas in uns hatte sich in den vergangenen Tagen verändert. Es ließ uns beide schaudern, den Namen in diesem kalten Haus geflüstert zu hören.
    »Wovon redest du?«, fragte Liu und beugte sich dichter zu seinem Sohn. »Yanwangye? Ich habe dich solchen Unsinn nicht gelehrt. Von wem hast du das aufgeschnappt?«
    »Er ist hier«, flüsterte der Junge und sah seinem Vater in die Augen. Ich schaute zu den Fenstern, die fest verriegelt waren. Draußen hörte man keinen Laut. »Der Yanwangye ist nach Nanking gekommen.« Er stand langsam auf, ohne den Blick
    von seinem Vater abzuwenden. »Wenn ihr mir nicht glaubt, dann kommt.« Er deutete auf die Tür. »Ich zeige euch, wo er lebt.«
    38
    Shi Chongming war überrascht, mich zu sehen. Er öffnete die Tür mit kühler Höflichkeit und ließ mich in sein Büro eintreten. Dann schaltete er den Heizlüfter ein, zog ihn näher an das niedrige, durchgesessene Sofa unter dem Fenster und füllte Wasser aus der Thermoskanne auf seinem Schreibtisch in eine Teekanne. Ich sah ihm geistesabwesend zu, während mir durch den Sinn ging, dass er, als wir das letzte Mal miteinander sprachen, den Hörer auf die Gabel geknallt hatte.
    »Nun, also«, begann er, als ich mich hingesetzt hatte. Er musterte mich neugierig, denn ich war geradewegs vom Tempel zu ihm gekommen. Mein Rock fühlte sich noch immer nass vom Gras an. »Bedeutet das, dass wir uns wieder versöhnt haben?«
    Ich schwieg, zog Mantel und Handschuhe aus, nahm die Mütze ab und knautschte sie auf meinem Schoß zusammen.
    »Haben Sie Neuigkeiten? Sind Sie gekommen, um mir zu
    sagen, dass Sie bei Fuyuki gewesen sind?« »Nein.«
    »Haben Sie sich dann an etwas erinnert? Etwas in Bezug auf den Glaskasten, den Sie gesehen haben?« »Nein.«
    »Ist es möglich, dass Fuyuki etwas in dem Kasten aufbewahrt? Denn es hörte sich so an, als Sie ihn beschrieben haben.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja. Was immer es ist, das Mr. Fuyuki trinkt, er glaubt, dass es ihn vor dem Tod bewahrt.« Shi Chongming schwenkte die Teekanne. »Er muss aufpassen, wie viel er zu sich nimmt, besonders wenn es gefährlich oder schwierig ist, Nachschub zu bekommen. Meinen Vermutungen nach bewahrt er das Mittel
    im Glaskasten auf.« Er schenkte Tee ein, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Erzählen Sie mir mehr von Ihren Eindrücken.«
    Ich schüttelte den Kopf, fühlte mich zu benommen, um ihm etwas vorzuspielen. Ich nahm die Tasse, die er mir reichte, und hielt sie

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