Tokio
fest mit beiden Händen umklammert. Unbehagliches Schweigen erfüllte den Raum, bis ich schließlich die Tasse abstellte.
»In China«, sagte ich, obgleich ich wusste, dass es nicht das war, was er hören wollte, »was passiert da, wenn jemand nicht anständig beerdigt wird? Was passiert mit seiner Seele?«
Meine Worte ließen ihn in der Bewegung, sich zu setzen,
erstarren. Er musste erst meine Frage verdauen, bevor er schließlich mit veränderter Stimme antwortete. »Was für eine sonderbare Frage. Was hat Sie denn darauf gebracht?«
»Was passiert mit der Seele?«
»Was passiert mit der Seele?« Er setzte sich, zupfte seine Jacke zurecht und schob seine Tasse hin und her. Dann rieb er sich über den Mund und sah mich an. »Die Unbestatteten? In China? Mal überlegen. Wir glauben, dass sie Geister werden. Boshafte Geister, die auf die Erde zurückkehren und Scherereien bereiten. Und deshalb bestatten wir unsere Toten mit großer Sorgfalt. Wir geben ihnen Geld, damit sie ins Jenseits eintreten können. Das hat ...«, er räusperte sich und trommelte gedankenverloren mit seinen Fingern,; »... das hat mir immer in Bezug auf Nanking Sorgen gemacht., Ich habe mich vor den Tausenden von boshaften Geistern gefürchtet, die in Nanking zurückgeblieben sind.«
Ich stellte meine Tasse ab und musterte ihn. Er hatte noch nie in dieser Weise über Nanking gesprochen.
»Ja«, bestätigte er und fuhr mit seinen Fingern am Rand der Tasse entlang, »es hat mir Sorgen bereitet. Es gab nicht genug Land in Nanking für Einzelgräber. Die meisten warteten monatelang darauf, bestattet zu werden. Manche hatten sich bereits in der Erde aufgelöst oder in... ineinander, bevor sie endlich ...« Er zögerte und starrte in seinen Tee, und mit einem Mal erschien er mir sehr alt. Ich konnte die blauen Adern unter seiner faltigen Haut erkennen. »Ich habe einmal ein kleines Kind gesehen«, fuhr er leise fort. »Ihm war von den Japanern etwas, etwas Fleisch weggeschnitten worden, hier, unterhalb der Rippen. Alle dachten, es wäre tot, aber niemand hatte es begraben. Es lag tagelang dort, direkt vor ihren Türschwellen, doch es kam niemand, um es zu beerdigen. Ich verstehe bis heute nicht, warum. In Nanking konnte man sich glücklich schätzen, wenn man eine Leiche hatte, die sich beerdigen ließ ...« Seine Stimme verlor sich, während er weiter auf seine Finger stierte, die noch immer über den Tassenrand strichen. Als er nicht weitersprach, beugte ich mich vor und senkte meine Stimme zu einem Flüstern: »Shi Chongming, erzählen Sie mir, was in dem Film passiert.«
Er schüttelte den Kopf.
»Bitte.«
»Nein.«
»Ich muss es wissen, ich muss es unbedingt wissen.«
»Es tut mir Leid. Wenn Sie es so dringend wissen müssen, dann helfen Sie mir bei meinen Nachforschungen.« Er sah mich an. »Deshalb sind Sie hergekommen, stimmt's?«
Ich seufzte und lehnte mich wieder im Sessel zurück. »Ja«, antwortete ich, »ja, deshalb bin ich hergekommen.«
Er lächelte bekümmert. »Ich glaubte, ich hätte Sie verloren. Lange glaubte ich, Sie wären mir entglitten.« Er bedachte mich mit einem Blick, der gleichzeitig traurig und liebevoll war und den ich noch nie zuvor bei ihm bemerkt hatte. Zum ersten Mal glaubte ich zu spüren, dass er mich mochte. Ich werde wohl nie erfahren, welche Reise er während jener Wochen, in denen wir nicht miteinander sprachen, gemacht hatte. »Weshalb sind Sie zurückgekommen?«
Als ich aufstand, um zu gehen, blieb ich in der Tür stehen und wandte mich zu ihm um. »Shi Chongming?«, sagte ich.
»Mhmmm?« Er blickte auf, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken gerissen. »Ja.«
»Sie haben mir gesagt, dass Unwissenheit und Verderbtheit nicht das Gleiche sind. Erinnern Sie sich noch?«
»Ja, das tue ich.«
»Stimmt das? Denken Sie, dass das stimmt? Dass Unwissenheit nicht das Gleiche wie Verderbtheit ist?« »Natürlich«, sagte er. »Natürlich stimmt es.« »Meinen Sie das wirklich?«
»Natürlich meine ich das wirklich. Unwissenheit kann man verzeihen. Unwissenheit ist nie und nimmer das Gleiche wie Verderbtheit. Warum fragen Sie?«
»Weil... weil ...«, ein Gefühl, das mich gleichzeitig stark und schwindlig machte, durchströmte mich, »... weil das eine der wichtigsten Fragen der Welt ist.«
39
Es wurde zunehmend kälter, und der Himmel sah nach Regen aus. Die Autos, die an den Ampeln warteten, hatten beschlagene Fenster, die fest geschlossen waren. Windböen ergriffen Gegenstände und wehten sie in
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