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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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geschüttelt.
    »Schau her.« Er strich mit der Handfläche über seinen Arm.
    »Schau nur, mir stehen die Haare zu Berge. Ich krieg bei so was sofort einen Ständer. Das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe. In Südamerika.« Er spannte seine Finger um den Bizeps und schloss bei der Erinnerung genießerisch die Augen.
    »Sie hatte ihren Arm verloren. Und die Stelle, wo sie ihn amputiert haben ... das war wie ein ...«, er hielt seine Finger so, als würde er die zarteste Frucht balancieren, »... es war wunderschön, wie eine Pflaume. Total irre ...« Er grinste.
    »Aber du hast ja immer über mich Bescheid gewusst, oder?«
    »Bescheid gewusst? Nein, ich ...«
    »Ja.« Er sank vor mir auf die Knie, legte die Hände auf meine Hüften und atmete heiß auf meinen Bauch. »Das hast du. Du wusstest, was mich scharf macht.« Er streckte seine Zunge heraus, um meine Haut zu lecken. »Du wusstest, dass ich für mein Leben gern Freaks ticke.«
    Meine Starrheit löste sich unvermittelt. Ich stieß ihn von mir weg und taumelte nach hinten. Er ließ sich auf seine Hacken sinken und schaute verblüfft drein, während ich mein Unterhemd griff und es mir unbeholfen überstreifte. Ich wollte aus dem Zimmer rennen, bevor mir die Tränen kamen, doch er befand sich zwischen mir und der Tür, also drehte ich mich zur Wand und kauerte mich in die Ecke. Mir fiel alles wieder ein: die Fotografien in seinem Zimmer, die Videos, die er, wie die Russinnen behaupteten, guckte, die Art, wie er über die Krankenschwester sprach. Ich war eine von ihnen - ein Freak. Etwas Verstümmeltes, das ihn scharf machte, genau wie die Videos, die er sich ansah.
    »Was ist denn?«
    »Ahm ...«, sagte ich kleinlaut und wischte mir mit der Hand über die Augen. »Ahm ... Ich denke, ich denke, vielleicht sollte ich ...« Tränen liefen mir über die Wangen. Ich fing sie mit den Händen auf, damit er sie nicht auf den Boden fallen sah.
    »Nichts.«
    Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Siehst du? Ich hab dir ja gesagt, dass alles gut werden würde. Ich hab dir gesagt, ich würde es verstehen.«
    Ich gab keine Antwort, versuchte, nicht zu schluchzen.
    »Das hier ist es, worauf wir die ganze Zeit über hingesteuert sind, stimmt's? Das ist es, was uns zueinander hingezogen hat. Ich wusste es in dem Moment, als ich all das hier gesehen habe
    - deine Bilder, all die abgefahrenen Fotos in deinen Büchern -, ich wusste, du und ich sind ... ich wusste, wir sind uns gleich.«
    Ich hörte, wie er eine weitere Zigarette anzündete, und stellte mir sein Gesicht vor, grinsend, selbstsicher, während sich seine Lust an den Narben entzündete, die ich so lange versteckt hatte. Ich stellte mir vor, wie er mich sah, in der Ecke kauernd, meine dünnen Arme um mich geschlungen. »Du hast einfach nur ein bisschen länger gebraucht«, sagte er. »Ein bisschen länger, um zu erkennen, dass wir ein Paar sind. Ein Paar von Perversen. Wir sind füreinander geschaffen.«
    Ich sprang auf, klaubte meine Kleider vom Stuhl und zog
    mich, seinen Blick meidend, eilig an. Meine Beine zitterten wie Espenlaub, während ich in den Mantel schlüpfte und in meiner Handtasche nach den Schlüsseln wühlte. Dabei musste ich mühsam meine Tränen zurückhalten. Er sagte nichts, versuchte auch nicht, mich zurückzuhalten, schaute mir nur schweigend, mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht, zu und rauchte gedankenverloren eine Zigarette.
    »Ich gehe aus«, sagte ich und riss die Tür auf.
    »Okay«, hörte ich ihn sagen, »es ist okay. Bald hast du dich wieder eingekriegt.«
    Noch bis 1980 war es in England üblich, ein tot geborenes Kind nicht in einem Grab zu beerdigen, sondern es in einen gelben Plastiksack zu stecken und zusammen mit anderem Krankenhausmüll zu verbrennen. Es war sogar möglich, dass seine Mutter, ein Teenager ohne jegliche Erfahrung, das Baby hergab und nicht zu fragen wagte, was mit ihm geschah. Und das alles nur, weil mein Baby nicht die notwendigen achtundzwanzig Wochen in mir überlebt hatte. Nur einen Tag zu früh, und der Staat bestimmt, dass mein Baby nicht beerdigt wird, dass es einen Tag zu klein wäre, um ein Mensch zu sein, um eine Beerdigung oder einen richtigen Namen zu erhalten - so dass es für alle Ewigkeit den Namen Fötus tragen würde. Ein Name, der nichts mit meinem kleinen Mädchen gemein
    hatte, als es geboren war.
    Es war eine Vollmondnacht Ende Dezember. Draußen lag
    Schnee. Die Schwestern in der Notaufnahme fanden, ich hätte kein Recht so zu

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