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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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wie Emma, und starrte auf das Kondom. Ein Kondom. Ich hatte nie zuvor von einem Kondom gehört. Wie war es nur möglich, dass jemand, der so unwissend war wie ich, so lange überleben konnte?
    Die Bedeutung von neun Monaten zum Beispiel. Über die
    Jahre hatte ich Scherze und Anspielungen aufgeschnappt: »O
    ja, jetzt kommt er sich ganz groß vor, aber wart's nur ab, was für ein Gesicht er in neun Monaten macht.« So was eben. Aber ich verstand es nicht. Das wirklich Lächerliche war, wenn man mich nach der Tragezeit von Elefanten gefragt hätte, hätte ich die Antwort höchstwahrscheinlich gewusst. Aber was die Biologie des Menschen anging, fühlte Ich mich überfordert. Meine Eltern hatten wirklich ganze Arbeit darin geleistet, die Informationen zu sieben, die zu mir durchdrangen. Abgesehen von dem orangefarbenen Buch selbstverständlich, so wachsam waren sie nun auch wieder nicht.
    Das onanierenden Mädchen im Nebenbett starrte mich durchdringend an, als ich gestand, wie wenig ich wusste. »Das meinst du doch nicht ernst?« Ich zuckte mit den Achseln.
    »Heilige Scheiße«, sagte sie mit einem Anflug von Ehrfurcht in der Stimme. »Du meinst es echt ernst.«
    In ihrer Wut gaben mir die Krankenschwestern ein Buch über die Entstehung des Lebens. Es hatte den Titel Mami, was ist da in deinem Bauch? und einen hellrosa Einband mit einer Zeichnung von einem Mädchen mit Zöpfen, das zu einem Schwangerschaftsbauch in einem geblümten Kleid aufblickte. Eine der Rezensionen auf der Rückseite lautete: »Einfühlsam und informativ: Alles, was Sie wissen müssen, um die kleinen Fragen Ihrer Kinder zu beantworten.« Ich las es von Anfang bis Ende und bewahrte es dann in einer braunen Tüte ganz hinten in meinem Spind auf. Ich wünschte, ich hätte es schon früher gehabt. Dann hätte ich verstanden, was mit mir passierte.
    Ich erzählte keiner Menschenseele in der Klinik, wie jene Wochen nach dem Lieferwagen gewesen waren. Dass es mich
    Monate gekostet hatte, bis ich alles mit Hilfe von geflüsterten Bemerkungen und versteckten Anspielungen in den zerfledderten Taschenbüchern in den Regalen zu Hause zusammengefügt hatte. Dass ich, sobald ich um meine Schwangerschaft wusste, begriff, dass meine Mutter entweder mich oder das Baby oder uns beide umbringen würde. Das,
    vermute ich, ist der wahre Preis der Unwissenheit.
    In der Gasse draußen fiel eine Wagentür ins Schloss. Jemand rasselte mit Schlüsseln, und eine Frau kicherte schrill und sagte: »Ich werde nicht einen einzigen Schluck trinken, das schwöre ich.« Ihr Gelächter verebbte, als sie weiter die Gasse entlang zur Waseda Street gingen. Ich bewegte mich nicht, starrte Jason an, wartete darauf, was er sagen würde.
    »Du bist klasse«, sagte er schließlich, trat einen Schritt zurück und schenkte mir ein spitzbübisches Lächeln. »Du bist klasse, weißt du das? Und jetzt wird alles gut.«
    »Gut?«
    »Ja.« Er streckte seine Zungenspitze heraus und fuhr mit einem Finger vorsichtig an der dicksten Narbe entlang, der größten, die fünf Zentimeter rechts neben meinem Nabel begann und sich diagonal bis zum Hüftknochen zog. Er schnippte mit dem Fingernagel über die wulstige Stelle in der Mitte und navigierte um die kleinen Dellen, wo der Chirurg versuchte hatte, mich zusammenzuflicken. Es schwang neugieriges Staunen in seiner Stimme mit, als er fragte: »Da sind so viele. Wovon stammen die?«
    »Von einem ...« Ich versuchte zu sprechen, doch es gelang mir nicht. Ich schüttelte den Kopf, um den Mund wieder bewegen zu können. »Ein Messer. Ein Küchenmesser.«
    » Aah«, meinte er gedehnt. »Ein Messer.« Er schloss die Augen und leckte sich genüsslich über die Lippen, während er seine Finger auf dem knorpeligen Wirbel aus Narbengewebe ruhen ließ. Die erste Stelle, wo das Messer eingedrungen war. Ich zuckte. Er öffnete die Augen und sah mich durchdringend an. »Ist es hier tief eingedrungen? Mhmm? Hier?« Er bohrte seinen Finger in mein Fleisch. »So fühlt es sich an. Es fühlt sich an, als ob es tief eingedrungen wäre.«
    » Tief?«, wiederholte ich. Etwas schwang in seiner Stimme mit, etwas Sattes und Schreckliches, so als würde ihm das Ganze immenses Vergnügen bereiten. Die Luft im Zimmer schien mit einem Mal stickiger als noch wenige Minuten zuvor.
    »Ich ...« Warum wollte er wissen, wie tief es eingedrungen war? Warum fragte er mich das?
    »Ist es? Ist es tief eingedrungen?«
    »Ja«, hauchte ich, und er wurde von einem wohligen Schauder

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