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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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weinen, wie ich es tat. »Versuch, dich zu beruhigen.« Der Arzt konnte mir nicht in die Augen sehen, als ich wieder zu Bewusstseih kam, ausgestreckt auf dem Operationstisch, während er die Wunden auf meinem Bauch
    versorgte und mir schließlich das Ergebnis mitteilte.
    Ich versuchte, mich aufzusetzen, denn ich verstand nicht, was er sagte: »Was?«
    »Es tut uns sehr Leid.«
    »Nein. Sie ist nicht tot. Sie ist...«
    »Nun, natürlich ist sie das. Natürlich ist sie tot.«
    »Aber sie kann nicht tot sein. Sie sollte doch ...«
    »Bitte.« Er legte seine Hand auf meine Schulter und drückte mich sacht wieder auf den Tisch zurück. »Du hast doch nicht wirklich etwas anderes erwartet, oder? Und jetzt leg dich hin und entspann dich.«
    Sie versuchten, mich festzuhalten, mich davon abzubringen hinzuschauen. Doch ich überlistete sie. Ich sah hin und entdeckte dabei etwas, das ich nie vergessen werde: dass es möglich ist, in einem einzigen flüchtigen Augenblick alles zu erkennen, was aus einem Kind hätte werden können — durch die zarte Membran seiner Haut hindurch seine Seele zu erblicken, seine Stimme, sein vielschichtiges Ich, die lange Geschichte seines Lebens, das vor ihm liegt. All diese Dinge sind möglich.
    Da gab es eine Aushilfsschwester, die entweder nicht wusste oder sich nicht darum scherte, wie ich im Krankenhaus gelandet war. Sie tupfte mir mit einem Taschentuch die Tränen ab und streichelte meine Hand. »Du armes Ding, du armes Ding.« Sie blickte quer durch den Raum auf den kleinen Umriss in der Nierenschüssel, auf die zarte Wölbung der Schulter, den Flaum aus dunklem Haar. »Du musst jetzt aufhören, dir ihretwegen Sorgen zu machen, Schätzchen. Du musst damit aufhören. Wo immer ihre Seele jetzt ist, Gott wird sie finden.«
    Der Mond schien noch, als ich das Haus verließ und die Gasse entlangeilte, doch als ich schließlich Shiba-Koen erreichte, brach die Morgendämmerung an. Der Himmel hatte eine hübsche blassrosa Färbung, und ein unnatürlich warmer Wind wehte durch die Straßen und peitschte die kahlen Zweige im Zojoji-Tempel. Ich blieb an der Reinigungsschale vor den Reihen der stummen, blinden Kinderstatuen mit den roten Mützchen stehen und schöpfte mit der Kelle eisiges Wasser, so wie es Brauch war, zuerst in meine linke, dann in meine rechte Hand. Ich warf ein paar Yen in den Kollektenkasten, zog meine Schuhe aus und spazierte durch das eiskalte Gras an den Reihen der Steinkinder entlang.
    Die weißen Gebetszettel, die über mir an den Ästen befestigt waren, bewegten sich. Ich fand eine Stelle in der Ecke des Gartens, eine Stelle zwischen zwei Statuenreihen, wo man mich von der Straße aus nicht sehen konnte, zog meinen Mantel fester um mich und setzte mich auf den Boden. Die Tradition verlangte, dass man in die Hände klatschte, während man betete. Es gab da ein Ritual, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, also tat ich schließlich das, was ich Leute in meinem christlichen Heimatland hatte tun sehen. Ich faltete die Hände, legte die Stirn darauf und schloss die Augen.
    Vielleicht hatte die Krankenschwester Recht gehabt. Vielleicht wusste »Gott« etwas, das größer als wir war und wo sich die Seele meines Babys befand. Da es kein Grab besaß, an dem ich es hätte besuchen können, blieb mir nichts linderes übrig, als mir vorzustellen, dass es irgendwo über mir schwebte. Manchmal, wenn ich meine Augen ganz festschloss, sah ich es am schwarzen Nachthimmel, so hoch! oben, dass sein Kopf das Dach der Welt berührte. In mei«nen Träumen konnte es überall hinfliegen. Vielleicht sogar von England nach Tokio. Wenn es Europa hinter sich gelassen hatte, würde es der aufgehenden Sonne entgegenfliegen. Über die russischen Steppen und die unauslotbarern Tiefen des Baikalsees und dann weiter, über Reisfelder, Fabrikschlote in Shi Chongmings Heimatland und dann nach Tokio, bis es sich über Takadanobaba befand und die geschwungenen Giebel des alten Hauses sehen konnte. Und dann wäre mein Mädchen endlich ...
    Aber natürlich war sie nicht gekommen. Selbst zu O-Bont wenn die Toten angeblich die Lebenden besuchten und ich von meinem Fenster aus die träge auf dem Kanda dahintreibenden Laternen betrachtete, mit denen die Japaner ihre Toten zurück ins Jenseits führten, dachte ich in meiner Naivität, dass sie mich vielleicht finden würde. Doch sie tat es nicht. Vermutlich hatte sie es versucht, doch es war ein; so langer Weg für einen so kleinen Geist, von England hierher.

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