Tokyo Love
sei. Aber nun könne er es kaum erwarten, mir das Ergebnis zu präsentieren. Im übrigen war es inzwischen auch soweit, mein Zungenpiercing auf 12g zu weiten.
Am nächsten Tag überredete ich Ama, mit mir ins Desire zu gehen, indem ich vorgab, mir dort Piercingschmuck anschauen zu wollen. Als wir den Laden betraten, begrüßte uns Shiba-san und führte uns gleich ins Hinterzimmer, wo er aus einer Schreibtischschublade einen Bogen Papier hervorholte.
»Wow«, rief Ama begeistert aus. Ich selbst war ebenso hingerissen von dem Bild. Selbst Shiba-san, der, ganz stolz auf sein Werk, zwischen uns hin und her blickte, prahlte wie ein Kind mit seinem neuen Spielzeug: »Toll, was?«
»Das will ich als Tattoo.«
Mein Entschluß stand fest. Es war Liebe auf den ersten Blick. Schon allein der Gedanke, daß dieses Fabelwesen bald auf meinem Rücken tanzen würde, verursachte mir ein erregendes Prickeln. Ein Drache, der sich jeden Augenblick vom Papier in die Lüfte zu erheben schien, und ein Kirin mit hoch aufgebäumten Vorderbeinen, bereit, über den Drachen hinwegzuspringen. Ein Zweiergespann, meine Verbündeten im Leben, mir auf den Leib geschneidert.
»Okay«, sagte Shiba-san mit einem Lächeln.
Ama ergriff meine Hand und rief: »Cool!«
Solch ein wunderschönes Tattoo überstieg meine kühnsten Erwartungen. Gleich darauf besprachen wir, wo genau es hinsollte und welche Größe es haben würde, und einigten uns auf ein Maß zwischen fünfzehn und dreißig Zentimeter, also etwas kleiner als Amas. Es sollte von der rechten Schulter hinten über den Rücken verlaufen. In drei Tagen würde die Aktion starten.
»Den Abend davor bitte keinen Alkohol trinken. Und leg dich möglichst früh schlafen. Du mußt fit sein dafür.«
Ama nickte beipflichtend zu Shiba-sans Ermahnungen.
»Keine Sorge, ich werde schon auf Lui aufpassen.«
Ama legte seinen Arm um Shiba-sans Schulter, worauf dieser verdutzt guckte. Als er daraufhin flüchtig zu mir schaute, sah ich die gleiche Kälte in seinem Blick wie damals, als wir es miteinander getrieben hatten.
Ich lachte ihm mit den Augen zu, was er mit einem verstohlenen Lächeln erwiderte.
Ama schlug nun vor, wir sollten gemeinsam irgendwo was essen gehen. Shiba-san schloß den Laden etwas früher als üblich, und wir traten ins Freie. Als wir zu dritt die Straße entlangliefen, machten die vorübergehenden Passanten einen großen Bogen um uns.
»Mensch, Shiba-san, alle drehen sich nach uns um, wenn wir uns mit dir blicken lassen.«
»Wieso, du fällst doch selber auf in deinem Gangster-Look.«
»Was redest du da? Du machst doch voll einen auf Punk.«
»Ich kann nur sagen, ihr beide schaut zum Fürchten aus.«
Die zwei verstummten daraufhin.
»Ein Gangster, ein Punk und ein Barbiegirl, das ist doch eine abgefahrene Kombi«, rief Ama und schaute von Shiba-san zu mir.
»Ich hab euch schon mal gesagt: Ich bin kein Barbiegirl! Ich will jetzt Bier trinken. Los, gehen wir in eine Kneipe!«
Zu dritt schlenderten wir die belebte Straße entlang, ich zwischen Ama und Shiba-san, bis wir ein billiges Lokal fanden.
Wir wurden in eine Nische mit Sitzkissen geführt. Die anderen Gäste reckten neugierig ihre Köpfe und wendeten ihre Blicke daraufhin mißbilligend ab. Nachdem wir uns zugeprostet hatten, entstand eine hitzige Diskussion über Tattoos. Ama berichtete von seinen Erfahrungen, worauf Shiba-san uns von den mühsamen Anfängen seiner Lehrzeit als Tätowierer bis hin zu seiner Leidenschaft für Kirin-Designs erzählte. Am Ende saßen sie mit entblößtem Oberkörper da, um gegenseitig ihre Tätowierungen zu begutachten: welche Technik sie benutzt hatten, wie die Schattierungen ausfielen und so weiter. Amüsiert schaute ich den beiden zu. Mir fiel auf, daß ich Shiba-san zum ersten Mal so aufgekratzt erlebte. Wenn wir allein miteinander waren, ließ er diese Seite von sich nie durchscheinen. Selbst ein Sadist wie er schien also manchmal von einem Ohr zum anderen zu strahlen. Ich geriet allmählich in eine bierselige Stimmung und neckte die beiden: »Los, zieht euch was über!« oder »Haltet endlich mal die Klappe!« Alles in allem war es ein fröhliches Mahl mit erfrischendem Bier und einem tollen Tattoo-Entwurf in der Tasche. Mehr brauchte ich nicht, um mich wohl zu fühlen.
Als Ama kurz mal zur Toilette gegangen war, lehnte sich Shiba-san zu mir und strich mir sanft über den Kopf.
»Du hast doch keine Bedenken, oder?«
»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte ich. Wir schauten uns
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