Tolle Maenner
vergessen. Sie betrachtete Marcus’ kantige Kinnlade und den Bart, der eher die Bezeichnung »Zehn-Uhr-morgens-Schatten« verdient gehabt hätte. »Aus einem bestimmten Blickwinkel?«, erkundigte sie sich. »Oder darf es auch ein einfühlsamer Bericht darüber sein, wie ich den Muttertag zu verbringen gedenke?«
Marcus ging nicht darauf ein. »Wie Seattle seine Mütter feiert. Packen Sie so viele Restaurants, Floristen und andere Anzeigenkunden hinein, wie Sie können. Neunhundert Wörter bis morgen früh. Ich bringe es dann am Sonntag.«
Mein Gott! Neunhundert Wörter bis morgen nahmen ihr jede
Chance auf einen netten Abend mit Phil. Tracie betrachtete noch einmal Marcus, sein lockiges dunkles Haar, seine rosige Haut und seine kleinen blauen Augen und wünschte sich nicht zum ersten Mal, er möge nicht auch noch gut aussehen, wenn er schon so ein Ekelpaket war. Tracie hatte es sich zum Prinzip gemacht, Marcus nie zu zeigen, wenn er sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht gönnen. Also lächelte sie nur. Sie wusste, dass ihn das ärgern würde, und versuchte auch noch, möglichst debütantinnenhaft zu lächeln.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl, sagte der Frosch zur Prinzessin«, fügte sie hinzu.
»Die einzige Prinzessin hier sind Sie«, brummelte Marcus, als er sich umdrehte und auf den Weg machte, das Büro eines anderen bedauernswerten Journalisten zu verdunkeln. Über die Schulter fügte er noch hinzu: »Und versuchen Sie doch bitte, die Gene-Banks-Kurzbiografie ohne Ihre üblichen Trivialitäten hinzukriegen, ja? Ich will nichts über seinen Dackel hören.«
»Er hat gar keinen Dackel«, rief Tracie ihm nach, bevor sie leiser hinzufügte: »Er hat einen schwarzen Labrador.« Es stimmte ja, dass sie in ihren Artikeln die Haustiere und Hobbys der Computerfuzzies erwähnte, aber das machte die Leute schließlich irgendwie menschlicher. Und außerdem mochte sie Hunde.
Das Telefon klingelte, was sie daran erinnerte, dass sie Phil wegen heute Abend anrufen musste, aber um fünf nach zehn konnte es unmöglich schon er sein. Sie nahm den Hörer ab. »Tracie Higgins«, sagte sie so energisch und munter, wie sie konnte.
»Wofür ich ewig dankbar bin«, neckte sie Jonathan Delano. »Was ist denn los mit dir?«
»Ach, Marcus hatte gerade mal wieder einen Anfall«, erklärte Tracie.
»Ist doch gut, oder nicht?«, fragte Jon.
Tracie lachte. Jonathan brachte sie immer zum Lächeln, ganz egal, was geschehen war. Er war seit Jahren ihr bester Freund. Sie hatten sich bei einem Französischkurs an der Uni kennen gelernt. Jonathan hatte den größten Wortschatz und die übelste
Aussprache, die Tracie je zu Ohren gekommen war. Ihre Aussprache war dagegen astrein, aber dafür konnte sie kein einziges Verb konjugieren. Sie hatte mit Jon an seiner Aussprache gearbeitet, und er hatte ihr dafür bei der Grammatik geholfen. Beide hatten sie schließlich eine Eins bekommen, und seither waren sie die besten Freunde. Nur Jon oder ihre Freundin Laura konnten aus vier Silben heraushören, dass es ihr nicht gut ging.
»Ich habe gerade einen Riesenauftrag bekommen, und dabei wollte ich heute Abend doch ausgehen. Außerdem hat Laura mir ihren Besuch angedroht, also muss ich auch noch die Wohnung aufräumen.«
»Die berühmte Laura, deine Freundin aus Sausalito?«
»Eigentlich aus Sacramento, aber ist ja egal. Ja, genau die. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und braucht ein bisschen Zeit, um sich wieder zu fangen.«
»Brauchen wir das nicht alle? Was für ein Typ war das denn?«
»Ach, bloß der ganz normale Tut-mir-Leid-dass-ich-dich-nicht-angerufen-habe-kannst-du-mir-mal-dreihundert-Dollar-leihen? -Außerdem-wollte-ich-nicht-mit-deiner-besten-Freundin-schlafen- Typ.«
»Ach so. Ein Typ wie Phil also.«
Tracie hatte plötzlich ein Gefühl im Magen wie im Aufzug der Space Needle, dem schnellsten Aufzug aller Wolkenkratzer von Seattle. »Phil ist gar nicht so. Er hat’s zurzeit nicht leicht mit seiner Schriftstellerei und der Musik. Da braucht er eben manchmal Hilfe, das ist alles.«
In Wahrheit hatte Tracie weitaus öfter das Gefühl, dass Phil ihre Hilfe überhaupt nicht brauchte. Während sie ihn immer darum bat, ihre Artikel durchzulesen, zeigte er ihr nur selten, was er geschrieben hatte. Sie wusste nie so recht, ob es daran lag, dass er keine Kritik vertrug, oder daran, dass er auf ihre Meinung keinen Wert legte. Wie dem auch war, Tracie fühlte sich von dieser Haltung angezogen.
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