Tolstoi, A. K.
Du weißt ja, dass es ihm seit gestern nicht gut geht!“
„Beruhige dich und leg dich schlafen“, antwortete Georges, „ich werde für uns beide Wache halten.“
„Aber, mein Bruder“, sagte Sdenka mit ihrer sanftesten Stimme, „es scheint mir unnötig zu sein, Wache zu halten. Unser Vater ist schon eingeschlafen, schau, wie ruhig und friedlich er aussieht.“
„Ihr versteht beide nichts“, sagte Georges, so dass jegliches Widerwort unmöglich war, „geht jetzt schlafen, und ich werde Wache halten.“
Darauf herrschte eine tiefe Stille. Bald fühlte ich, wie meine Augenlider schwerer wurden und wie sich der Schlaf meiner bemächtigte.
Ich glaubte zu sehen, wie sich meine Zimmertüre langsam öffnete und der alte Gorcha in der Türschwelle sichtbar wurde. Ich sah ihn nicht mehr, als dass ich eher seine Silhouette erriet, denn der Raum, aus dem er kam, war sehr dunkel. Es schien mir, als könne man in seinen erloschenen Augen sehen, wie er versuchte, meine Gedanken und die Regelmäßigkeit meiner Atmung zu erraten. Dann nahm er einen Schritt nach vorne und dann einen anderen. Mit extremer Vorsicht und ganz leise bewegte er sich auf mich zu. Plötzlich sprang er, und in einem Satz stand er neben meinem Bett. Ich befand mich in einem unbeschreiblichen Angstzustand, aber eine unsichtbare Macht hielt mich unbeweglich fest. Der Alte bückte sich über mich und sein bleiches Gesicht war so nah an meinem, dass ich glaubte, seinen leichenhaften Atem riechen zu können. Also machte ich eine fast übernatürliche Anstrengung und wachte schweißgebadet auf. Es war niemand in meinem Zimmer, aber als ich zum Fenster schaute, sah ich ganz klar den alten Gorcha draußen stehen, er hatte sein Gesicht gegen die Scheibe gepresst und fixierte mich mit angsterregenden Augen. Ich hatte gerade noch die Kraft, nicht aufzuschreien und die Geistesgegenwart, liegen zu bleiben, als ob ich nichts gesehen hätte. Der Alte jedoch schien nur gekommen zu sein, um sich zu vergewissern, dass ich schlief, da er nicht versuchte hineinzukommen, aber nachdem er mich ausführlich beobachtet hatte, entfernte er sich vom Fenster und ich hörte ihn in das benachbarte Zimmer treten. Georges war eingeschlafen und er schnarchte so laut, dass man meinen könnte, er säge Holz. Das Kind hustete in diesem Moment und ich konnte die Stimme von Gorcha ausmachen.
„Schläfst du nicht, Kleiner?“, sagte er.
„Nein, Opa“, antwortete das Kind, „ich möchte gerne mit dir reden!“
„Ach, du möchtest mit mir reden, und worüber möchtest du denn mit mir reden?“
„Ich möchte, dass du mir erzählst, wie du gegen die Türken gekämpft hast, denn ich würde auch sehr gerne gegen die Türken kämpfen!“
„Ich habe daran gedacht, Kind, und ich habe dir einen kleinen Jatagan mitgebracht. Ich werde ihn dir morgen geben.“
„Ach Opa, gib ihn mir doch jetzt, da ich nicht schlafe.“
„Aber wieso, Kleiner, hast du mir nichts gesagt, als es noch Tag war?“
„Weil Papa es mir verboten hat!“
„Er ist vorsichtig, dein Papa. So, und du möchtest also deinen kleinen Jatagan haben?“
„Au ja, sehr gerne, aber nur nicht hier, Papa könnte erwachen!“
„Aber wo dann?“
„Wenn wir hinausgingen, verspräche ich dir, ganz brav zu sein und nicht das kleinste bisschen Lärm zu machen!“
Ich glaubte ein Hohngelächter von Gorcha auszumachen und hörte, wie das Kind aufstand. Ich glaubte nicht an Vampire, aber der Albtraum, den ich gehabt hatte, legte meine Nerven blank und, um mir später nichts vorwerfen zu müssen, stand ich auf und klopfte an die Zwischenwand. Es hätte reichen müssen, die sieben Schlafenden zu wecken, aber ich hörte nichts, das darüber Aufschluss gab, dass es von der Familie gehört worden war. Ich rannte zur Tür, ich war fest entschlossen, das Kind zu retten, aber sie war von außen her abgeschlossen und die Riegel gaben meinen Bemühungen nicht nach. Während ich versuchte die Tür einzutreten, sah ich den Greis vor meinem Fenster vorbeigehen, er trug das Kind in seinen Armen.
„Wacht auf, wacht auf!“, schrie ich aus voller Lunge und klopfte immer noch wie wild auf die Zwischenwand ein. Nur Georges wachte auf.
„Wo ist der Alte?“, fragte er.
„Geht schnell hinaus!“, schrie ich. „Er hat gerade euer Kind mitgenommen!“
Wütend trat Georges die Türe auf, die, genauso wie meine, von außen abgeschlossen gewesen war, und rannte in Richtung des Waldes. Schließlich konnte ich Pierre, seine Schwägerin und
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