Tolstoi Und Der Lila Sessel
bunten Lichtern und dunklem Tannengrün.
In den folgenden Tagen holte ich unsere alten Weihnachtsplatten heraus, Go Tell It on the Mountain , A Bing Crosby Christmas und Auszüge aus Händels Messias . Vom Dachboden schleppte ich die Kiste mit Weihnachtsbüchern herunter und blätterte sie durch. Jedes Buch löste Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste aus. Eine Menge Kinderbücher waren darunter, meine Lieblingsbücher abgegriffen, voll klebriger Fingerabdrücke und eingerissener Ecken: Peter Spiers Weihnachten , Christmas Without a Tree von Elizabeth B. Rodger über ein großzügiges kleines Schwein und The Christmas Crocodile von Bonny Becker, illustriert von David Small. Dieses Kinderbuch war für mich das Vorbild einer gelungenen Weihnachtszeit bei uns zu Hause (bis das Krokodil alles auffraß). Wir hatten auch Klassiker wie Dickens’ Weihnachtsmärchen und Lois Lenskis Christmas Stories – ich habe noch immer dasselbe Exemplar, das ich mit zehn geschenkt bekam. Und ich besaß die Christmas Story meiner Eltern aus dem Metropolitan Museum of Art, die Weihnachtsgeschichte mit den wunderschönen Gemälden.
In den meisten Jahren las ich sämtliche Bücher, die ich vom Dachboden heruntergeschleppt hatte, noch einmal, von den einfachsten Bilderbüchern bis zum Sammelband Ghost Stories of Christmas . Nicht so in diesem Jahr. Bei meinem täglichen Lesepensum fehlte mir dazu die Zeit. Ich befürchtete, dass ich auch für viele andere unserer weihnachtlichen Rituale keine Zeit haben würde. Aber an unseren liebsten Traditionen würden wir auf jeden Fall festhalten, und alles Weitere würde sich schon irgendwie ergeben.
Ich suchte mir ein paar neue Weihnachtsbücher – das schrecklich langweilige Abbot’s Ghost von Louisa May Alcott, Jimmy Carters liebenswert-lahmes Christmas in Plains und Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste von Charles Dickens. Der Mann in Dickens’ Geschichte wird von der Vergangenheit verfolgt, in der er viel Schreckliches erleiden musste: »Ich habe sie im Feuer gesehn – die Bilder, eben wieder«, murmelt er vor sich hin. »Sie kommen zu mir im Wind, in der Musik, in der Totenstille der Nacht, Jahr um Jahr.«
Da erscheint ein geisterhafter Doppelgänger des gequälten Mannes und bietet ihm einen Pakt an. Der Geist verspricht ihm, alle negativen Erinnerungen an die Vergangenheit auszulöschen und an deren Stelle nur noch »eine schwache, verwischte Spur« zurückzulassen, die auch bald verschwindet. »Mein Gedächtnis ist mein Fluch, und wenn ich Kummer und Unrecht vergessen könnte, ich würde es tun.« Und so schließt der Ruhelose den Pakt mit dem Gespenst. Fort sind alle Erinnerungen und mit ihnen seine Fähigkeit zu Zärtlichkeit, Mitgefühl, Verständnis und Fürsorge. Zu spät wird dem Behexten klar, dass er ohne seine Erinnerungen ein seelenloser Mensch geworden ist, der allen, in deren Nähe er kommt, Unglück bringt. Doch weil Weihnachten ist und der Mann eine Figur von Dickens, bekommt er die Chance, den Handel rückgängig zu machen, seine Erinnerungen wiederzuerlangen und weihnachtliche Freude zu verbreiten.
Da mir die Bedeutung von Erinnerungen inzwischen klar geworden war, gefiel mir die Geschichte sehr gut. Aber die von Dickens gezogene Schlussfolgerung behagte mir ganz und gar nicht: Es ist gut, sich an vergangenes Unrecht zu erinnern: »Damit wir es vergeben können!« Wie sollte ich je vergeben, dass Anne-Maries Leben geraubt worden war?
Am Wochenende vor Weihnachten kamen meine Eltern und Natasha nach Westport, um wie jedes Jahr Lebkuchenmänner zu backen, eine Tradition, die bis in meine Grundschulzeit zurückreicht. Unsere Lebkuchenmännchen sind stets ein Abbild unserer Vorlieben. Als ich klein war, machte ich Schneemänner und überzog sie mit zentimeterdicker weißer Buttercreme. Ich war immer schon ein Süßschnabel und ließ keine Gelegenheit zum Naschen aus. Als Teenager machte ich einen David-Bowie-Lebkuchenmann und bildete den Blitz, der quer durch sein Gesicht läuft, mit roten Zimtherzchen nach. Anne-Marie machte eine Lady Godiva, und Natasha buk Volleyballspielerinnen in unseren Schulfarben. Ungefähr zur selben Zeit begründete meine Mutter die Tradition, Adam und Eva, beide anatomisch korrekt, und eine vollbusige Meerjungfrau zu backen. In diesem Jahr tendierten meine Kinder zum Blutrünstigen, ließen rote Zuckerstreusel in Strömen fließen und enthaupteten ihre Lebkuchenmänner so häufig, dass wir eine ganze Armee heiliger Märtyrer stellen
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