Tolstoi Und Der Lila Sessel
hinein und hängten sie an den Baum. Im Laufe der Jahre sind unsere Weihnachtsbäume erst größer, dann wieder kleiner geworden, je nach der Wohnung, in der wir gerade wohnten.
In dem Jahr, als Meredith zu uns in die Dreizimmerwohnung an der West Eighty-first Street zog, kauften wir ein sehr kleines Bäumchen. Jack und ich räumten unser Bett ins Wohnzimmer, damit seine vierzehnjährige Tochter ein eigenes Zimmer haben konnte, und die drei Jungen mussten sich das andere teilen. In dem Jahr hatten wir nur Platz für ein Tischbäumchen. Als wir zwei Jahre später aus der Wohnung in ein Reihenhaus mit undichten Wänden, halbem Dach und nicht funktionierender Küche zogen, kauften wir eine riesige Tanne, die in dem offenen Wohnbereich bis an die Decke ragte.
Seit wir in die Vorstadt gezogen sind, werden unsere Bäume immer größer. Jedes Jahr fahren wir zu einer Weihnachtsbaumpflanzung auf der anderen Seite der Stadt, wo auf mehreren Hektar Weißfichten, Blautannen und Douglasien angebaut werden. Die Pflanzungen mit den Tannenbäumen ziehen sich direkt an der Interstate-95 entlang, und auch dieses Jahr wurde unsere Wahl vom Donnern der Lastwagen untermalt. Vielleicht lag es an den Lastern, vielleicht an den sechs Stimmen, die sechs verschiedene Meinungen kundtaten – oder vielleicht lag es daran, dass wir so verrückt nach dem wunderbaren Tannenduft waren. Sicher ist, dass uns unsere gesammelte Urteilskraft, wie sich der Baum vor uns in unserer Diele ausnehmen würde, abhanden kam.
»Ganz sicher?«, fragte der Mitarbeiter der Weihnachtsbaumplantage, als wir auf unseren auserwählten Baum zeigten.
»Ja klar«, sagte ich.
Jack ging das Auto holen, während der junge Mann den fünfundzwanzig Zentimeter dicken Stamm des Baums mit der Axt bearbeitete. Als wir das Ding schließlich oben auf dem Dach hatten und das Harz hinten aufs Heck tropfte, wurde mir klar, was der junge Mann gemeint hatte. Die Zweige hingen links und rechts über die Fenster herunter und blockierten die hinteren Türen.
Ich stieg in den Wagen und überprüfte die Sicht. »Nach vorn kann man wunderbar sehen. Rein mit euch, Jungs!« Die Kinder kletterten über die Vordersitze ins Auto, und los ging’s. Den Baum zu Hause vom Wagendach zu bekommen erwies sich als gar nicht so einfach. Als er schließlich unten war, zerrten und zogen wir ihn über den Rasen zur Haustür.
»Hochheben!«, brüllte Jack. »Ihr dürft ihn nicht ziehen, hoch! Hoch!«
Zu viert schoben wir den Baum die Stufen hinauf, während Jack und Michael von innen zogen. Nicht von Weihnachtsliedern, sondern von Flüchen begleitet, die wir nie vor den Kindern benutzen wollten, aber bei jedem Weihnachtsbaumkauf wieder in den Mund nahmen, schafften wir den Baum in die Diele. Ich setzte den blond gelockten Engel auf die Spitze (wo hatten wir das scheußliche Ding bloß her?), und wir stellten uns in Position, um den Baum aufzurichten. Noch mehr Drücken, Ziehen und Fluchen, und wir hatten ihn in den tonnenschweren Eisenständer bugsiert. Der Baum schwankte und hinterließ lange braune und grüne Streifen an Wänden und Decke.
»Stößt er irgendwo an?«, fragte Jack von unten am Baumständer.
»Nein, nein«, antwortete ich. »Alles bestens hier oben.« Der Baum hörte auf zu wanken und stand gerade. Jack zog die Schrauben am Stamm fest an und richtete sich auf.
Wir hatten uns wieder einmal selbst übertroffen. Der diesjährige Baum war so hoch, dass die Spitze sich in den Kronleuchter bohrte, der im Obergeschoss an der Decke hing. Eine der Glühbirnen steckte dem Engel unter dem Rock und ließ ihn in ganz neuer Art und Weise erstrahlen. Tannenzweige streckten sich bis auf die Treppe und füllten die Eingangsdiele, was das Durchkommen erschwerte. Es war, als wäre der Baum als Erster da gewesen, und wir wären später hinzugekommen und hätten unser Haus und unser Leben rund um diese übergroße, übermächtige Tanne gebaut.
Ich fädelte bunte Lichterketten zwischen den Tannenzweigen hindurch, dann wurden unsere Kinder mit dem Weihnachtbaumschmuck losgelassen. Am Abend erstrahlte unser Baum – unser Leitstern, unsere raison de la saison – in hochherrschaftlicher Pracht. Er war nicht mehr zu groß: Jetzt war er genau richtig. Die Katzen nahmen ihren Platz unter den Zweigen ein, und wir setzten uns ins Wohnzimmer. Der Weihnachtsbaum war so groß, dass man ihn von keinem Zimmer aus vollständig sehen konnte. Alle Perspektiven boten Ausschnitte, gefüllt mit glitzernden Farben,
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