Tolstoi Und Der Lila Sessel
von Marisa de los Santos. Dem fügte ich ein flämisches Sprichwort hinzu, das meine Mutter gern benutzte: Ieder diertje zijn pleziertje – Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Das Buch Die Tochter meines Geliebten war ein Geschenk gewesen, und die Geschichte hatte mich zwar nicht bewegt, aber das Geschenk dafür umso mehr. Es zeigte mir, dass ich geliebt wurde, und das war ein schönes Gefühl. Ich erwiderte diese Liebe mit einem Gegengeschenk: Ich lieh meiner Freundin The Third Angel von Alice Hoffman, ein Buch, das ich gerade gelesen und sehr genossen hatte. Gefiel es meiner Freundin auch? Sie sagte Ja, als sie es ein paar Wochen später zurückbrachte.
Es gibt Buchliebhaber, die ihre Schätze aus lauter Angst, sie nicht zurückzubekommen, nie verleihen. (Ein altes arabisches Sprichwort erkennt: »Wer ein Buch ausleiht, ist ein Idiot. Wer es zurückgibt, ein noch größerer.«) Ich bin immer äußerst freigebig mit meinen Büchern, getreu Henry Millers Ratschlag: »Wie Geld sollten Bücher stets im Umlauf gehalten werden. Leih und borge so viel wie nur möglich – Bücher und Geld! Aber besonders Bücher, weil Bücher für so viel mehr stehen als Geld. Ein Buch ist nicht nur ein Freund, es schafft dir auch neue Freunde. Wenn du ein Buch in Gedanken und im Geist besessen hast, bist du bereichert. Aber wenn du das Buch weitergegeben hast, bist du dreifach bereichert.« Ich würde also, wenn ich Bücher annahm und weitergab, Freunde dazugewinnen, nicht verlieren. Wenn ich es nicht übers Herz brachte, mich von einem Buch zu trennen, besonders, wenn ich Notizen an den Rand und hinten ins Buch gekritzelt hatte, dann kaufte ich ein neues Exemplar und verschenkte das.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass nicht nur ich und meine Freunde Bücher lasen und weitergaben, sondern dass überall auf der Welt Bücher gelesen und weitergegeben wurden, von Freundinnen und Schwestern und Müttern und Söhnen, die Bücher entdeckten, die sie liebten, und das, was sie entdeckt hatten, mit den Menschen teilten, die sie liebten. Diese Lektion lernte ich nicht aus einem Buch, sondern durch E-Mails. Die Mutter einer guten Freundin mailte mir aus Florida, um Enzo: die Kunst, ein Mensch zu sein von Garth Stein zu empfehlen. Dann schickte mir eine Österreicherin eine E-Mail, wie gut ihr meine Rezension von Am Strand von Ian McEwan gefallen habe.
»Haben Sie schon Abbitte gelesen?«, schrieb sie. »Ich habe es gelesen und an alle verschenkt, die ich kenne. Viel besser als der Film.«
Meine Schwägerin schickte mir ihr Exemplar von Alice Hoffmans Third Angel . Die Kritik dazu hatte ich schnell geschrieben: »Der dritte Engel ist die Liebe, die einen Augenblick lang grenzenlos ist, lang genug, um jemanden zu verändern, zu trösten oder zu retten. Der dritte Engel ist, wenn ein Sonnenuntergang oder ein Heidekrautfeld oder ein junger Hund einen Augenblick lang allein ausreicht, wenn es ausreicht zu lieben, einfach zu wissen, wie viele Möglichkeiten das Leben bereithält.« Oder vielleicht ist der dritte Engel ja, wenn eine Freundin einer anderen ein Buch weitergibt und Herz und Seele offenlegt.
Ich erhielt eine E-Mail von einem Mann aus New York, der Nachforschungen für seine Lesegruppe anstellte und dabei auf meine Besprechung von The Sin Eater von Alice Thomas Ellis stieß. Im Laufe der nächsten Monate schrieben wir uns regelmäßig, er empfahl mir Bücher wie Ein Abend zu zweit von Elaine Dundy und Was am Ende bleibt von Paula Fox. Wir, zwei Wildfremde, hatten in unserer Liebe zu Büchern etwas Gemeinsames gefunden. Eine Leserin meldete sich aus Deutschland, die Schwester einer Freundin schrieb aus Brasilien und empfahl brasilianische Schriftsteller, eine Frau mailte mir aus Singapur, und eine ganze Reihe britischer Bücherfans hatte Lektüreempfehlungen für mich. Draußen in der Welt gab es jede Menge unersättlicher Leser, und alle hatten sie Bücher, die sie liebten und die man »unbedingt lesen musste«.
In meinem Lesejahr geschah wesentlich mehr, als ich anfangs erwartet hätte. Ich beschäftigte mich nicht nur mit meinen eigenen Erinnerungen, sondern teilte eine der größten Freuden des Lebens, das Lesen, mit einer ständig größer werdenden Gruppe von Freunden und Fremden, Lesern und Schriftstellern.
An jedem beliebigen Tag nehmen Hunderte, wenn nicht Tausende von Lesern das gleiche Buch zur Hand. Es gibt organisierte Veranstaltungen, bei denen gemeinsam gelesen wird, wie das von unserer Stadtbücherei organisierte
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