Tolstoi Und Der Lila Sessel
dass sich ihr die Seele der Schenkenden geöffnet hat und sie dessen Empfindungen nicht mit Füßen treten darf. Ich übertreibe nicht. Vor sechzehn Jahren lieh mir eine Arbeitskollegin Robert James Wallers Roman Die Brücken von Madison County . Ich las das Buch in einer Nacht durch und machte, als ich hinterher mit Mary darüber sprach, die Bemerkung, ich fände es manipulativ und unrealistisch.
»Zugegeben, ich habe die halbe Nacht durch gelesen – ich wollte unbedingt wissen, ob sie sich nun wiederkriegen oder nicht –, aber ehrlich gesagt hat die Geschichte nichts damit zu tun, wie echte Menschen sich verhalten. Das war romantischer Blödsinn.«
Mary erwiderte, ich hätte überhaupt nichts begriffen – und kam von da an nicht mehr auf einen Plausch an meinen Schreibtisch und rief mich auch nicht mehr an. Ich hatte ihr Buch als Blödsinn bezeichnet und damit sie selbst als »blöd«. Diesen Fehler würde ich auf keinen Fall noch einmal begehen. Aber wie sollte ich ein Buch besprechen, das ich nicht mochte, wenn ich es von einer Freundin bekommen hatte, die ich sehr wohl mochte?
Wir Schwestern haben schon immer Bücher untereinander ausgetauscht, erst als ABC-Schützen und später als Teenager und Erwachsene. Natasha und ich waren beide Pferdenärrinnen gewesen und hatten uns für dieselben Schmöker von Marguerite Henry begeistert. Mein Lieblingsbuch war Schwarzer Blitz , ihres Misty, die berühmte Ponystute gewesen, und Zum Traben geboren liebten wir beide. Als ich dreizehn wurde, schenkte Anne-Marie mir Steal this Book des amerikanischen Radikalen Abbie Hoffman (sie wusste genau, dass ich mir ihr Exemplar klauen würde, und kam dem Diebstahl mit einem Geschenk zuvor). Ich sah mir das Inhaltsverzeichnis an. Ich interessierte mich für alles, was man umsonst haben konnte – aber die Tipps zu kostenfreien Abtreibungen und Behandlungen von Krankheiten verstörten mich. Was für Krankheiten? Ich wollte weder Marihuana anbauen noch in einer Kommune leben. Aber das Buch war eher symbolisch gemeint. Ich klappte es zu und ließ es wie zufällig auf meinem Schreibtisch liegen, damit es meine Freunde sahen, wenn sie mich besuchen kamen. Meine große Schwester hatte mich in die Welt der Erwachsenen eingeladen. Ich war nicht mehr die kleine Schwester, ich war aufgestiegen.
Anne-Marie schenkte mir den ersten Wilkie-Collins-Krimi, Der Monddiamant , als ich Jura studierte. Es war der Auftakt zu einer obsessiven Begeisterung für diesen Autor, die nie nachgelassen hat. Sie versuchte auch, mich für Anthony Trollope zu erwärmen, aber ich konnte weder ihm noch seinem Barsetshire etwas abgewinnen. Und als ich nach einer Knieoperation zwei Wochen im Bett liegen musste, brachte sie mir Quincunx von Charles Palliser mit, einen historischen Roman, der im viktorianischen London spielt und einen vaterlosen Helden, zufällige Begegnungen von großer Bedeutung, herrlich absurde Nachnamen und eine Handlung aufweist, die mich bis zum Ende auf Seite 1004 fesselte.
Buchgeschenke unter Geschwistern tragen weit weniger Gefahren in sich als unter Freunden. Man hat weniger zu verbergen und weniger zu verlieren. Die Seele einer Schwester ist, freiwillig oder nicht, schon tausend Mal entblößt worden (ich hatte immerhin Anne-Maries Tagebuch gelesen). Außerdem ist die Familie immer für einen da, komme, was wolle. Will eine Freundin ein Buch schenken, riskiert sie viel mehr. Ein Buch ist eine ausgestreckte Hand, die womöglich ignoriert oder gar ausgeschlagen wird.
Meine Freunde wussten über meinen Lesemarathon Bescheid, auch wenn ich mir alle Mühe gab, nicht ständig davon zu reden. Ich wollte nicht die berüchtigte Langweilerin sein, die bei jeder Abendeinladung von Büchern sprach. Ich versuchte, nicht zu oft das Gespräch an mich zu reißen und Vorträge über mein Lieblingsthema zu halten. Es war ja schon schlimm genug, dass ich ständig vor mich hin trällerte: »Ich bin verliebt, ich bin verliebt, ich bin ja so verliebt, verliebt in ein wunderbares Buch!« Ich konnte von Glück sagen, dass ich nette Menschen um mich hatte, die mir ein Buch in die Hand drückten und sagten: »Hier, lies mal das.« Ich begriff, dass ich bei der Besprechung dieser Bücher nicht nur aufrichtig, sondern auch dankbar sein musste. Dankbar für das Teilen, für die offengelegte Seele, für die Freundschaft.
»Die Liebe ist blind, das ist bei der Liebe zu Büchern nicht anders«, schrieb ich in meiner Besprechung von Die Tochter meines Geliebten
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