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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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ich mir bereits mehr Sorgen darüber, allein hinaus auf den dunklen, verlassenen Parkplatz gehen zu müssen, als über den Gesundheitszustand meines Mannes. Uns waren noch viele gemeinsame Jahre bestimmt, und dazu mussten wir beide am Leben bleiben. Der Parkplatz werde überwacht, beruhigte mich der Arzt, aber er sei gern bereit, mich hinaus zum Auto zu begleiten.
    »Danke, aber ich bleibe noch ein bisschen«, antwortete ich und fasste wieder nach Jacks Hand. Die letzte große Liebe meines Lebens: Sie würde ich festhalten, so lange es ging.
    Die erste und letzte Liebe meines Vaters ist meine Mutter. Er hatte sie bei einer abendlichen Philosophievorlesung an der Universität Löwen kennengelernt. Er hatte dort mit dem Medizinstudium begonnen, sie studierte Literatur. Während der Professor vorn im Auditorium über Thomas von Aquin redete, fertigte mein Vater in seinem Notizbuch eine Zeichnung meiner Mutter an. Die Skizze hat er heute noch, das Notizbuch liegt sicher verwahrt in der Schublade des Nachttischs neben seinem Bett. Meine Mutter hatte zahlreiche Verehrer vor meinem Vater, verliebte sich aber in keinen von ihnen. Ihren ersten Heiratsantrag bekam sie von der Mutter eines jungen Mannes, der zu schüchtern war, um selbst zu fragen. Als meine Mutter ablehnte, schloss sich der Schüchterne der französischen Fremdenlegion an. Soweit ich weiß, tauchten keine ehemaligen Verehrer im Leben meiner Mutter auf, nachdem meine Eltern nach Amerika ausgewandert waren, aber ihre Generation kennt auch kein Facebook.
    Im Roman Die Geschichte der Liebe von Nicole Krauss ist es auch nicht Facebook, das ein altes Liebespaar wieder zusammenführt. Es ist Ausdauer. Der Roman erzählt die Geschichte von Leo: Er »war ein großer Schriftsteller. Er verliebte sich. Das war sein Leben.« Schreiben und Lieben. Doch dann wird er durch den Krieg von Alma, seiner ersten großen Liebe, getrennt, und sie sucht sich einen Neuen, weil sie glaubt, Leo für immer verloren zu haben. Was soll Alma tun, als Leo sie Jahre später wiederfindet? Sie hält an den Worten fest, die er für sie geschrieben hat – immerhin ist er Schriftsteller –, sagt ihm aber, er solle gehen. Er liebt sie noch immer, aber sie liebt nur die Erinnerung an ihn.
    Dass ich meine Erinnerungen an Andrew liebte, bedeutete nicht, dass ich Andrew liebte. An Alfonso hatte ich noch viel schönere Erinnerungen – er hatte mich immerhin nie sitzen lassen –, aber auch ihn liebte ich nicht mehr. Mit keinem von beiden hatte ich Tausende von Augenblicken geteilt; und das, was ich vor langer, langer Zeit für sie empfunden haben mochte, hatte heute keine Bedeutung mehr. Nostalgie hatte die Gefühle abgelöst. Ich wusste, was ich auf die unterschwellige Frage in der Facebook-Nachricht antworten würde: Ich habe dich einmal geliebt, aber das ist vorbei.
    »Nichts auf der Welt zählt außer der Liebe«, schwärmt eine alte Freundin der Erzählerin in The Provinicial Lady von E. M. Delafield vor. Ihre Antwort? »Ein Bankkonto, gesunde Zähne und anständige Bedienstete zählen viel mehr.« Ich lachte und unterstrich den Satz. Und plötzlich wurde ich wieder an die Worte von Jeffersons Patentante in dem Roman Jeffersons Würde erinnert: »Du bist mir nicht egal.« Es ist nicht das Gefühl der Liebe, das für sich allein genommen zählt. Die Menschen, die ich liebe, sind es, die für mich die Welt zusammenhalten.
    Natürlich gibt es eine Menge kleiner Dinge im Leben, die eine Rolle spielen, wie ein volles Bankkonto und gesunde Zähne, und noch viel mehr Dinge, die keinerlei Rolle spielen, wie mein Haarschnitt oder die Staubflocken unter den Betten. Doch jenseits der großen und kleinen Alltäglichkeiten, der Kardiologie und den Facebook-Meldungen und den Staubflocken, zählen die Menschen, die ich liebe, am meisten.
    Ich sollte ihnen sagen, wie wichtig sie mir sind, immer wieder. Worte der Liebe halten uns warm, sogar an den letzten Wintertagen.

12
Erfahrungserweiterung
Nun, wo ich mir die Mühe gemacht hatte, etwas darüber zu erfahren, musste ich mich auch fragen, ob ich es wirklich wissen wollte. Wollte ich. Ich musste es wissen, aber ich bin nicht froh über dieses Wissen.
WENDELL BERRY , Hannah Coulter
      In der Nacht des 13. Februar 1945 sah mein Vater in knapp acht Kilometern Entfernung Dresden in Flammen aufgehen. Während der dunklen Nachtstunden bis zum Morgengrauen des nächsten Tages sah er fassungslos zu, wie die Stadt mit Brandbomben komplett zerstört wurde. Er roch

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