Tolstoi Und Der Lila Sessel
zu suchen, nie lässt ihn die Frage los, warum er überlebt hat und seine Familie nicht. Das Überleben selbst ist ein »kompliziertes Liniengeflecht«, und der Krieg hinterlässt Narben: Einsamkeit und Angst, Zorn und Ratlosigkeit. Antons Kriegsverletzungen sind sein Pessimismus und die quälenden Erinnerungen an jene schreckliche Nacht vor seinem Haus: »Es ist die Hölle, dachte er, die Hölle. Selbst wenn morgen der Himmel auf Erden errichtet würde, könnte es nach all dem, was in der Vergangenheit passiert ist, nicht der Himmel sein. Es war hoffnungslos.
Erst wenn es kein Leben mehr gab, und damit auch keine Erinnerung mehr an die Todesschreie, wäre die Welt wieder in Ordnung.«
Mein Vater musste wegen des Krieges seine Heimat verlassen, den Ozean überqueren und in der Neuen Welt noch einmal von vorn anfangen. Meine Eltern haben mir immer erzählt, ich sei nach den Bolschoi-Ballerinas benannt, von denen etliche Nina hießen. Nur wenige Tage vor meiner Geburt gingen sie zu einer Ballettaufführung. Aber ich bin überzeugt davon, dass mein Name auch auf die Schwester meines Vaters, Antonina, zurückgeht, die in jener Nacht des Jahres 1943 ermordet wurde. Ähnlich wie bei Anton, der seinen Sohn nach seinem verstorbenen Bruder benannte, ist mein Name ein Andenken an ein verlorenes Leben, an eine geraubte Schwester.
Im letztes Kapitel des Romans Attentat gerät Anton, inzwischen ein Mann mittleren Alters, in eine Anti-Atom-Demo. Die Demonstranten protestieren gegen den drohenden Nuklearkrieg, bei dem beide Seiten vernichtet würden. Anton bezweifelt jedoch, dass eine atomare Auseinandersetzung verhindert werden kann. »Am Ende ist alles vergessen, meint er.«
Geborgen in meinem lila Sessel, schreckte ich vor Antons Schlussfolgerung zurück. Ist am Ende wirklich alles vergessen? Lernt die Welt nie etwas dazu? Ich dachte an das erste Buch zurück, das ich je über den Krieg gelesen hatte, Im fünften Frühling kehrten sie heim von Irene Hunt. Darin wird die Geschichte der Familie Creighton aus dem südlichen Illinois erzählt. Der amerikanische Bürgerkrieg spaltet die Familie, ein Sohn schließt sich der Nordstaatenarmee an, ein anderer kämpft für die Konföderierten.
Ich las das Buch 1975, als ich in der Oberschule war. Damals hatten die Vereinigten Staaten gerade den Vietnamkrieg hinter sich, aber unsere Lehrerin zog keine Parallelen zwischen unserer historischen Lektüre und unserer Gegenwart. Wir, 1962 geborene Schüler der achten Klasse, hatten unser ganzes bisheriges Leben im Schatten des Vietnamkriegs verbracht. Wir hätten gern über die Parallelen zwischen den kriegerischen Auseinandersetzungen der 1860er- und denen der 1960er- und 70er-Jahre gesprochen. Für uns war es die Gelegenheit, über den Krieg zu sprechen und ihn vielleicht besser zu verstehen. Aber unsere Lehrerin stellte Im fünften Frühling kehrten sie heim als Roman dar, der historische Ereignisse schilderte, Fakten, die wir für die nächste Klassenarbeit auswendig lernen mussten und dann wieder vergessen konnten.
Ich erinnere mich noch an einen Kirchgang in den Siebzigern, ein paar Jahre, bevor wir den Roman lasen. Der Pfarrer verdammte in seiner Predigt von der Kanzel herab die Proteste gegen den Vietnamkrieg.
»Wir müssen den Krieg unseres Landes gegen Kommunismus und Gottlosigkeit uneingeschränkt unterstützen. Wer Amerika nicht liebt, der hat keinen Platz hier.«
Meine Mutter neben mir auf der Kirchenbank zuckte zusammen und holte scharf Luft. Als der Gottesdienst zu Ende war, stürmte sie mit bebender Unterlippe und schwingenden Armen aus der Kirche. Ich weiß noch, wie ich neben ihr auf dem Kirchplatz stand und ihrer zornigen Tirade auf den Priester lauschte, der bittere Tränen folgten. Ich klammerte mich an ihrem Rock fest und spürte, mit welcher Leidenschaft sie sprach.
»Eine Demokratie braucht die Stimmen der Bürger, ganz gleich, ob sie die Regierung unterstützen oder ihr gegenüber kritisch eingestellt sind! Hier ist kein Platz für uns? Von wegen, wir bleiben in Amerika und versuchen, ein besseres Land daraus zu machen. Ein Land, das für den Frieden eintritt und nicht ewig Kriege führt!«
Ich fühlte, wie empört sie war, dass ein Mann Gottes das Kriegführen guthieß. Wie Kurt Vonnegut seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg zusammenfasste: »Krieg ist Mord«, und das sollten wir nicht vergessen. Der Pfarrer der Sankt-Athanasius-Gemeinde hatte es vergessen. Doch meine Mutter hatte es nicht vergessen, mein
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