Tolstoi Und Der Lila Sessel
den Rauch und wusste, dass nicht nur die Häuser brannten. Zusammen mit vielen Tausenden war er auf der Flucht vor der Roten Armee gewesen. Er hatte auf einem Feld campiert, doch die meisten anderen Flüchtlinge waren weitergezogen nach Dresden, eine der schönsten Städte Europas. Dort würden sie auf die Bürger Dresdens und unzählige andere Vertriebene stoßen.
Nach der Bombardierung lag Dresden in Schutt und Asche, und die meisten Einwohner waren tot – verbrannt oder in den Kellern und Bunkern erstickt. Man schätzt, dass bei dem zweitägigen Luftangriff zwischen mehreren Zehntausend und mehreren Hunderttausend Menschen ums Leben kamen. Mein Vater wäre wahrscheinlich einer davon gewesen, wenn er sich nicht auf freiem Feld schlafen gelegt hätte. Er hätte auch schon zwei Jahre zuvor ermordet werden können, als die Partisanen in sein Elternhaus eindrangen und Sergei, Antonina und Boris umbrachten. Wenn er den Krieg nicht überlebt hätte, säße ich jetzt nicht hier und läse Bücher. Doch alles, was er gesehen, was er erlebt und erlitten hatte, das Wissen, das er mit sich herumtrug, hatte natürlich Auswirkungen auf sein Leben.
Zu Beginn meines Lesejahres schickte mir ein Cousin aus Belgien ein Buch des holländischen Schriftstellers Harry Mulisch mit dem Titel Das Attentat . Monatelang stand es auf dem Bücherregal in einer Ecke. »Aber es ist ein ganz hervorragendes Buch«, beharrte mein Cousin. Ihm war nicht klar, wie viel Angst mir der Einband machte mit dem Foto eines Toten, der mitten auf der Straße lag, und mehr noch der Text auf der Rückseite: »Ein Nazikollaborateur, der für seine Grausamkeit berüchtigt war, wird ermordet … In einem Racheakt stecken die Deutschen das Haus einer unschuldigen Familie in Brand und schlachten sie ab.« Ich hatte Angst, das Buch zu lesen, weil es von Rache, Krieg und Hass handelte. Ich hatte genug Geschichten von meinem Vater gehört, ich wusste, was während des Krieges passiert war. Wollte ich darüber wirklich etwas lesen?
Schließlich, Ende März, zog ich das Buch aus dem Regal. In diesem Jahr wollte ich alles erfahren, was mir wichtige Bücher zu sagen hatten, und meine Ängste sollten mir dabei nicht im Weg stehen.
Als ich Das Attentat zum ersten Mal aufschlug, stand ich drei Stunden lang nicht mehr aus meinem Sessel auf. Ausgehend von einer wahren Geschichte, erzählt der Roman vom Mord an einem grausamen niederländischen Nazipolizeibeamten während der letzten Tage der deutschen Besatzung und davon, wie dieser Mord bleibende Schatten über das Leben aller wirft, die damit zu tun hatten – von der Familie, die zu Unrecht der Tat bezichtigt wird, über die deutschen Soldaten, die ohne zu zögern grausam Rache nehmen an den wirklichen Tätern, bis hin zur Familie des ermordeten Polizisten.
In der Anfangsszene liegt ein Junge namens Anton an der Böschung eines Kanals oberhalb des Leinpfads versunken in den Anblick der Bugwellen vorbeifahrender Motorschiffe: »Dann schwappten die Wellen zurück und formten ein umgekehrtes V, ein Lambda, das sich immer mehr schloss, nun aber mit dem ursprünglichen V zusammenstieß, verformt das andere Ufer erreichte und wieder zurückschlug, bis der Kanal in seiner ganzen Breite von einem komplizierten Liniengeflecht überzogen war, das sich minutenlang immer wieder veränderte, bis es sich schließlich beruhigte und verschwand. Anton versuchte immer wieder, den genauen Ablauf der Bewegungen herauszufinden, doch jedes Mal wurde das Wellenmuster so kompliziert, dass er es nicht mehr verfolgen konnte.« Als ich weiterlas, wurde mir klar, dass das Bild des »komplizierten Liniengeflechts« auf die kommenden Ereignisse verwies, nämlich die Ermordung des Nazipolizisten und die darauf folgende Ermordung aller Mitglieder von Antons Familie mit Ausnahme des Jungen selbst. Anton verbringt sein ganzes Leben in dem Bemühen, die Ereignisse jener Nacht des Grauens zu enträtseln und zu verstehen, warum der niederländische Polizist umgebracht wurde, warum gerade an seiner Familie so fürchterlich Rache geübt wurde und welche Rolle die anderen Beteiligten in dieser Tragödie spielten.
Nach Kriegsende wird Anton von Verwandten aufgenommen, geht wieder zur Schule, ergreift einen Beruf und findet eine Frau. Im Laufe seines Lebens gibt es Augenblicke des Glücks und der Freude, wie die Geburt seines Sohnes, den er nach seinem toten Bruder Peter nennt. Aber Anton hört nie auf, nach dem Schlüssel zu dem Rätsel jener einen Nacht
Weitere Kostenlose Bücher