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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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ich – aus sicherer Distanz, versteht sich, aber dennoch mit Schweiß und Tränen – Kriegszeiten, so wie ich in anderen Büchern wie Alice Fantastic oder Family Happiness an Lust und Liebe teilhatte. Bisher war ich vor Büchern über den Krieg zurückgeschreckt, weil ich nichts lesen wollte, das beängstigend, verstörend und erschütternd war. Doch jetzt verstand ich, warum es wichtig ist, auch solche Bücher zu lesen. Weil man die Welt – und sich selbst – nur verstehen kann, wenn man die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrungen versteht. Weil ich nur so definieren kann, was und wer mir wichtig ist und warum.
    Anton sah im Krieg den Beweis für die Gewalttätigkeit im Wesen des Menschen. Nathan, Hannah Coulters zweiter Mann, fand einen Gegenbeweis in seiner Familie, in dem ruhigen Plätzchen, das er in der Welt gefunden hatte. Mein Vater verlor, genau wie Anton, Familienmitglieder im Krieg. Auch seine Geschwister wurden ermordet. Aber er überlebte den Krieg, ohne eine pessimistische und menschenverachtende Haltung anzunehmen. Er war eher wie Nathan: Er hatte die Verheerungen des Krieges miterlebt, besann sich nach dem Krieg auf sich selbst und wandte sich ganz dem Aufbau einer familiären und beruflichen Existenz zu, die ihn vor den Erinnerungen schützte. Hannah beschreibt es so: »Das Leben in unserem Haus war ein Segen für ihn, aber er sah es immer von einem Ring von Feuer umgeben, der es jederzeit hätte verschlucken können.«
    Meine Mutter, meine Schwestern und ich, wir waren der Schild meines Vaters gegen die Vergangenheit, eine Pufferzone zwischen ihm und dem Grauen, das er durchgemacht hatte. Aber wir waren mehr als das, wir waren das Versprechen einer besseren Zukunft. Anne-Maries Tod jedoch hatte eine Kerbe in den Schild geschlagen, den Puffer zerrissen, das Versprechen gebrochen. Ich konnte den Riss flicken, aber die ausgebesserte Stelle wäre für immer sichtbar und würde immer wieder auf Anne-Maries Fehlen hinweisen. Und was das Versprechen anging, so versuchte ich es für alle in der Familie zu retten: Ich las.
    Und durch das Lesen erkannte ich, dass es im Leben immer Leid geben wird und dass dieses ungleichmäßig zugeteilte Leid die Bürde menschlichen Daseins ist. Tragische Ereignisse geschehen zufällig und sind ungerecht verteilt. Jedes Versprechen eines glatt verlaufenden Lebens ist trügerisch. Aber jetzt weiß ich, dass ich die schweren Zeiten überstehen kann und auch die schlimmsten Schicksalsschläge eine Bürde, aber kein Todesurteil sind. Bücher halten dem Leben einen Spiegel vor – meinem Leben! Und all das Schlimme und Traurige, das mir und den Figuren in den Romanen zustößt, ist zugleich die Probe und der Beweis unserer Kraft.
    Erfahrungen, wirkliche oder erfundene, sind so wichtig, weil sie uns zeigen, wie wir leben sollen – und wie wir nicht leben dürfen. Ich merkte, wie ich mich durch die Begegnung mit den verschiedenen Romanfiguren und den Konsequenzen ihres Handelns veränderte. Ich entdeckte neue Möglichkeiten, mit den Kümmernissen und Freuden des Lebens umzugehen. Ich konnte dem Beispiel meines Vaters folgen und meine Familie um mich scharen oder es mit Anton halten und nur das Schlimmste von der Welt erwarten. Ich entschied mich, es meinem Vater gleichzutun.
    In dem Roman Das Attentat geht es um viel mehr als nur den Krieg, genau wie in Hannah Coulter . Diese beiden Bücher – und auch alle anderen hervorragenden Bücher, die ich las – handelten von der Gesamtheit menschlicher Erfahrung in ihrer ganzen Komplexität. Von den Dingen, die wir am liebsten vergessen möchten, und denen, die wir nie leid werden. Davon, wie wir uns tatsächlich verhalten und wie wir uns gern verhalten würden. Bücher sind Lebenserfahrung, sie sind die Worte von Schriftstellern, die vom Trost der Liebe, von familiärer Erfüllung, dem Grauen des Krieges und dem Sinn des Erinnerns erzählen. Glück und Tränen, Freude und Schmerz: All das erlebte ich beim Lesen in meinem lila Sessel. Noch nie hatte ich so lange still gesessen und dabei so viel erlebt.

13
Mit der Welt verbunden
Ich weinte vor Freude, als die Kinder alle zusammen im funkelnden Schaum der Wellen spielten, die sich an der Felsspitze zwischen den Welten brachen. Es war wunderschön, und dieses Wort würde ich den Mädchen zu Hause nicht zu erklären brauchen, und ich brauche es euch auch nicht zu erklären, denn wir sprechen jetzt alle dieselbe Sprache.
CHRIS CLEAVE , Little Bee
      Welch glückliche

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