Tolstoi Und Der Lila Sessel
Fügung spielte mir in der Mitte meines Lesejahrs Little Bee des Engländers Chris Cleave in die Hände? Angefangen hatte das Jahr mit der Eleganz des Igels und meiner ersten Lektion: Das Schöne im Leben muss man entdecken und ein Leben lang festhalten. Jetzt las ich Little Bee und verstand, was für ein Glück es ist, mit dem Rest der Welt verbunden zu sein. Mir wurde klar, dass ich ganz und gar Teil der Welt bin und nicht abseits stehe, auch wenn ich mich oft als Außenseiterin fühle.
Vermutlich war es nicht ungewöhnlich, dass ich mir als Einwandererkind in unserer Kleinstadt im Mittleren Westen vorkam wie ein Fremdkörper. Doch auch während des Studiums hielt das Gefühl an und begleitete mich selbst jetzt noch, als Mutter in einer anderen Kleinstadt. Meine Söhne waren nicht sonderlich sportlich, und da ich nicht der Typ fürs Vereinsleben war, fühlte ich mich von der endlosen Abfolge von Kinderverabredungen, Sportplatzereignissen und Cocktailpartys, die das Leben anderer Familien bestimmt, ausgeschlossen. Und als meine Schwester starb, wurde das Gefühl der Entfremdung noch stärker. Ständig wurde mir versichert, dass es mir bald wieder besser gehen würde, dass Trauern ein Prozess sei und das Schlimmste bald überstanden sein würde. Woher wussten die Leute das? Woher wollten sie wissen, dass es bei mir so sein würde? Niemand verstand mich in meiner Trauer.
Doch meine Bücher zeigten mir, dass jeder Mensch Phasen des Leids durchlebt. Und dass es in Wirklichkeit eine Menge Leute gab, die wussten, was ich durchmachte. Ich erfuhr, dass Leid und Glück allgemeinmenschliche Erfahrungen sind und dass sie das Bindeglied zwischen mir und dem Rest der Welt herstellen. Ich weiß, das hätten mir auch meine Freundinnen sagen können, aber in Freundschaften gibt es immer Grenzen, dunkle Winkel, geheim gehaltene Gefühle. In Büchern erfahre ich alles über die Menschen, ich sehe sie von innen und außen; und indem ich lerne, sie zu verstehen, verstehe ich auch mich selbst und die Menschen in meiner Umgebung.
In Little Bee wird die Geschichte einer jungen Afrikanerin erzählt (Little Bee, kleine Biene, ist ihr Spitzname), die aus ihrem Heimatland Nigeria geflohen ist und in England nach Andrew und Sarah sucht, zwei Menschen, die ihr früher schon einmal geholfen haben. Aber Andrew hat Selbstmord begangen, und Sarah leidet an Depressionen. Nach dem Tod ihres Mannes hadert Sarah auch mit ihrem eigenen Leben, ihr Sohn ist verhaltensgestört, ihr Geliebter macht ihr das Leben schwer, und ihre Arbeit als Journalistin erscheint ihr sinnlos. Little Bee versucht Sarah zu trösten, und im Gegenzug versucht Sarah, Little Bee zu helfen. Little Bee hat mit angesehen, wie ihre Schwester vergewaltigt und ermordet und das Dorf ihrer Kindheit verwüstet wurde. Nun sucht sie nach innerem und äußerem Frieden. Die Vergangenheit verfolgt sie, und ihr Leben in der Gegenwart – ohne Ausweis und ohne Arbeit in einem fremden Land – ist mehr als unsicher.
Sowohl Sarah als auch Little Bee empfinden sich als Außenseiterinnen. Sarah hat den Eindruck, dass alle um sie herum auf eine Weise funktionieren, die ihr verschlossen bleibt. Little Bee ist Afrikanerin, ein Flüchtling ohne Status und Papiere und für die Engländer naturgemäß eine Fremde. Das Trauma, das sie erlebt hat, entfernt sie noch weiter von ihrer Umgebung.
Als ich Ende der Achtzigerjahre anfing, als Rechtsanwältin zu arbeiten, vertrat ich einen Flüchtling, der in den USA Asyl suchte. Ähnlich wie Little Bee hatte Kulwinder Singh eine schreckliche Geschichte der Folter zu erzählen. Er wurde im indischen Staat Punjab von der Polizei festgenommen, weil er für ein Mitglied einer militanten Gruppe gehalten wurde, die einen unabhängigen Sikhstaat forderte. Wochenlang wurde er von der Polizei festgehalten und gefoltert und schließlich mit einer Warnung freigelassen. Er lieh sich das Geld für ein Flugticket zusammen und floh mit dem Segen seiner Familie aus Indien. Als er auf dem Kennedy-Flughafen in New York gelandet war, stellte er einen Asylantrag, woraufhin er in einem Übergangslager in Manhattan eingesperrt wurde. Als ich ihn zum ersten Mal sah, fiel mir sofort auf, wie schmächtig er war. Die Anstaltskleidung, in der er steckte, ein orangefarbener Overall, war ihm viele Nummern zu groß, und er hatte Ärmel und Beine hochgekrempelt, um nicht darin zu versinken. Sein erschöpftes, unrasiertes Gesicht war nicht größer als das eines Kindes. Wir saßen mit einem
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