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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Vater auch nicht. In diese Kirche gingen wir nie wieder.
    Ich erlebe oft, dass ich bei einer Diskussion in geselliger Runde diejenige bin, die das Gute im Menschen verteidigt. An ein Abendessen erinnere ich mich besonders lebhaft: Es war ein lauer Sommerabend, und wir saßen zu acht um einen Tisch neben einem Swimmingpool in East Hampton und aßen Hummer. Ich war als Einzige am Tisch überzeugt, dass die Menschen ihrem Wesen nach hilfsbereit und kreativ sind. Ich blickte in die Gesichter meiner Tischgenossen: Allesamt stammten sie aus liebevollen Familien und hatten eine gute Ausbildung genossen. Alle Möglichkeiten standen ihnen offen. Wie gelang es ihnen, darüber hinwegzusehen, dass der gesamte Reichtum ihres Lebens den positiven Eigenschaften der Menschen zu verdanken war? Ich führte das wunderbare Essen, unsere lang währenden Freundschaften, unsere gedeihenden Familien (mehrere Babys waren mit von der Partie) als Beweis für die großen und kleinen selbstlosen guten Taten an, derer die Menschen fähig sind.
    Doch eine Frau in der Runde spielte das aus, was in jeder Debatte über das Wesen des Menschen als Trumpf gilt: »Und was ist mit Krieg? Wenn wir Menschen so gut sind, warum ziehen wir dann immer wieder los, um uns gegenseitig umzubringen?«
    Ich hatte keine Antwort für Liza. Doch jetzt weiß ich, was ich hätte erwidern sollen.
    »Lies ein Buch«, hätte ich sagen sollen, »dann verstehst du besser, warum wir Menschen Kriege führen, dann kannst du nachempfinden, was uns zur Gewalt treibt.«
    Draußen auf der Terrasse, in dieser wunderbaren Sommernacht, würden wir die Frage, ob der Mensch im Grunde seines Wesens gut oder schlecht ist, nicht lösen. Aber vielleicht würde Liza besser verstehen, was sich in uns Menschen verbarg, wenn sie sich mit einem Buch ins Bett legen und es lesen würde. Vielleicht würde sie dann begreifen, welche Sehnsüchte uns antrieben und wie sie sich auf unser Leben auswirkten.
    Die Protagonistin in Wendell Berrys Roman Hannah Coulter versucht den Krieg mithilfe von Büchern zu verstehen. Ihr erster Mann wird 1942 nach Europa geschickt und fällt im Krieg. Hannah heiratet ein zweites Mal, und auch ihr zweiter Mann, Nathan, wird eingezogen und an die Front im Pazifik versetzt. Er nimmt am Kampf um Okinawa teil, kehrt aber lebend zurück. Nathan spricht mit niemandem, auch nicht mit Hannah, über das, was er dort erlebt hat. Als er viele Jahrzehnte später stirbt, spürt Hannah, dass sie mehr über die Schlacht erfahren muss, und wendet sich auf der Suche nach Antworten an Bücher: »Ich musste es wissen, aber ich bin nicht froh über dieses Wissen.«
    Aus den Büchern erfährt sie, dass das Grauen, das ihr Mann erlebt hat, zu den unvermeidlichen Tatsachen des Krieges gehört. Krieg ist »ein von Menschen gemachter Feuersturm der Explosionen und Erdbeben, eine von Menschen gemachte Naturkatastrophe, die sich ganz allmählich aus Unwissenheit und Hass, Neid und Stolz, Egoismus und einer albernen Verliebtheit in die Macht aufbaut und wie ein vom Wind gepeitschter Flächenbrand über das stille Land mit seinen freundlichen Menschen hinweggeht«. Hannah versucht, die Folgen des Krieges nicht nur für Nathan, sondern auch für ihre Kinder und sich selbst zu verstehen. Sie will wissen, was ihr Mann im Krieg erlebt hat, um sein späteres Verhalten als Ehemann und Vater begreifen zu können. Ihr wird klar, dass er die Stille ihrer Kleinstadt, den Kreis der Familie und ihre Liebe brauchte, um seine Erinnerungen in Schach zu halten: »Er brauchte die Gewissheit, dass er hier war und ich hier bei ihm war, dass er aus der Welt des Krieges zurückgekehrt und hier bei mir war. Beruhigt konnte er wieder einschlafen, und auch ich schlief.«
    Bücher verhindern jenes Vergessen, das Anton befürchtet. Mithilfe von Büchern eignen wir uns andere Erfahrungen an und lernen neue Lektionen. Antons Frustration bei der Beobachtung des komplizierten Liniengeflechts auf dem Wasser und seine Unfähigkeit, »den genauen Ablauf der Bewegungen herauszufinden« – diese Frustration verspüre ich nicht. Ich verstand das Liniengeflecht und die Wellen, weil ich Das Attentat gelesen hatte und wusste, welche Auswirkungen diese eine schreckliche Nacht auf das Leben aller Beteiligten hatte. Seit der Lektüre habe ich eine Vorstellung, was Krieg bedeutet, und werde es nie vergessen. Ich habe erlebt, was Anton erlebt hat, und werde mich immer an ihn erinnern.
    Als ich Das Attentat und Hannah Coulter las, erlebte

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