Tolstoi Und Der Lila Sessel
Dolmetscher zusammen, einem Sikh mit Turban, der keinen Hehl aus seiner Geringschätzung für Kulwinders kurz geschnittenes Haar machte. Mit verächtlichem Schnauben erklärte er mir nach dem Gespräch, dass ein wahrer Sikh sich nie die Haare schneiden ließ.
Kurze oder lange Haare, Kulwinder war seiner kulturellen Identität wegen verfolgt worden. Mit leiser, zögernder Stimme erzählte er mir von Festnahme und Folter. Ich zwang mich, mir dort in dem staubigen Besucherraum des Internierungslagers seine Wunden anzusehen und zu dokumentieren. Seine Handrücken waren mit wulstigen Narben bedeckt und voller Flecken, in seinen Handflächen waren dunkle Kreise zu sehen – Brandlöcher von Zigaretten. Sie zogen sich an den Armen hinauf, und als Kulwinder den orangefarbenen Overall hochrollte, sah ich weitere dunkle Brandstellen an seinen Oberschenkeln.
Mit seiner Aussage und der Dokumentation seiner Narben gewannen wir die Verhandlung vor dem Immigrationsrichter. Kulwinder wurde Asyl gewährt, und er lebt jetzt im Staat New York und ist in Sicherheit. Ich bin der Folter nie wieder so nah gekommen wie den Narben an seinem Körper und will ihr ganz sicher auch niemals näher kommen.
Ich glaube nicht an ein großes Karma, ein unsichtbares Band, das mich mit allen anderen Menschen auf der Welt verbindet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass schreckliche Ereignisse geschehen, ohne dass ich etwas davon ahne. Ich spürte nicht, wie meine Schwester zum letzten Mal Atem holte. Ich fühle die Erde nicht unter meinen Füßen grollen, wenn es Tausende von Kilometern entfernt ein Beben gibt. Mir läuft kein Schauder über den Rücken, wenn auf der anderen Seite der Welt ein Völkermord verübt wird. Als brennende Zigaretten auf Kulwinders Händen ausgedrückt wurden, merkte ich nichts.
Trotzdem weiß ich, dass ich die Erfahrungen anderer Menschen nachspüren und nachvollziehen kann. Die Macht des Lesens verhilft mir dazu. Worin liegt der Zauber der Bücher? Wie gelingt es Schriftstellern, uns Leser so eng an die Romanhelden zu binden, dass ihr Schicksal gleichsam zu unserem wird? Auch dann – besonders dann –, wenn Personen und Handlung rein gar nichts mit unserem Leben gemein haben?
Indem sie etwas Allgemeingültiges zur Sprache bringen. Als Little Bee morgens mit Sarah zum Milchholen fährt, sagt sie zu ihr: »Wir versuchen alle, in dieser Welt glücklich zu sein. Ich bin glücklich, weil ich nicht glaube, dass heute Männer kommen werden, um mich umzubringen. Du bist glücklich, weil du eigene Entscheidungen treffen kannst.« Little Bee und Sarah erkennen einander in den Hoffnungen der jeweils anderen und wollen einander bei der Erfüllung dieser Hoffnungen helfen. Ich erkannte mich in beiden Frauenfiguren. Ich sah sie als Außenseiterinnen, die nach Antworten suchen. Auf die äußere oder historische Ähnlichkeit kam es nicht an, sondern auf das, was wir uns wünschen und wonach wir uns sehnen, und darin sind wir uns gleich, unabhängig von der Hautfarbe.
Nach dem Krieg war mein Vater einer der vielen Vertriebenen – ein Flüchtling ohne Pass und ohne Staatsangehörigkeit. Anfangs lebte er in einem Flüchtlingslager, dann war er auf einem amerikanischen Armeestützpunkt angestellt und zog bei einem deutschen Ehepaar ein. Das Ehepaar hatte alle Kinder – drei Söhne – im Krieg verloren. Die beiden behandelten meinen Vater sehr gut, gaben ihm alles zu essen, was sie irgendwie auftreiben konnten, damit wieder etwas Fleisch auf seine Rippen kam, und forderten ihn auf, sich abends zu ihnen zu setzen, als gehörte er zur Familie. Mein Vater war von dem gleichen Wunsch nach Frieden und Sicherheit erfüllt wie das Ehepaar. Zu dritt bemühten sie sich nach den Grauen des Krieges um etwas Normalität.
Jacks Vater, mein Schwiegervater, war nach dem Krieg auf einer philippinischen Insel stationiert. Dort beaufsichtigten seine amerikanischen Kameraden zum Tode verurteilte japanische Kriegsverbrecher. Irgendwie fanden sie heraus, dass mehrere ihrer japanischen Gefangenen künstlerisch begabt waren. Die Amerikaner zeigten den Gefangenen Fotografien ihrer Lieben daheim in den Staaten und baten sie, Porträts nach den Fotos zu malen. Dafür gaben sie ihnen Zigaretten und andere Genussmittel und machten ihnen so die letzten Tage ihres Lebens angenehmer. Die Amerikaner fühlten sich durch den Tauschhandel ihren Familien zu Hause näher. Die Japaner fanden Anerkennung als begabte, fühlende Menschen, sie waren nicht länger nur
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