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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Unmenschen, die im Krieg Grausamkeiten begangen hatten. Diese Geschichte erinnert mich an einen Satz in Hannah Coulter , wo sich selbst in den schlimmsten Phasen der Schlacht um Okinawa »ein riesiges Bedauern in der Luft anzusammeln« schien.
    Im April hatte ich Ruins von Achy Obejas gelesen, die Geschichte eines verarmten Kubaners um die fünfzig. Usnavy arbeitet tagein, tagaus in einer Bodega und verkauft den Schlange stehenden Leuten das, was ihnen laut ihrer Bezugskarte zusteht: »Seife war knapp, Kaffee rar; niemand konnte sich an das letzte Mal erinnern, als es Fleisch gegeben hatte.« Er haust mit seiner Frau und Tochter zusammen in einem einzigen fensterlosen Zimmer, in dem der Boden wegen eines Lecks in der Decke ständig feucht ist. Das Gemeinschaftsbadezimmer der Mietskaserne wird von einem Fliegenschwarm belagert, und das gesamte Gebäude steht kurz vor dem Einsturz. Jeden Tag hört Usnavy von Kubanern, die sich hinaus aufs Meer wagen und in die USA fliehen, auf der Suche nach besserer Ernährung, besseren Wohnverhältnissen und einer besseren Zukunft. Auch Usnavys Freunde bauen ein klappriges Floß, aber er selbst will Kuba nicht verlassen.
    Ich konnte mir kaum jemanden vorstellen, der mir weniger ähnlich war als Usnavy, und doch identifizierte ich mich mit ihm. Ich fühlte mit ihm mit, ich trauerte mit ihm. Und ich merkte, wie ich am Ende inständig hoffte, sein letzter Wunsch, »alt und zufrieden … begleitet vom sanften Wellenschlag einer Antillennacht zu sterben«, möge in Erfüllung gehen. Obejas gibt mir das Gefühl, Usnavy wäre ein Teil von mir, weil sie über das schreibt, was wir gemeinsam haben: Liebe, Hoffnung, Glauben. Er liebt seine Familie, und ich liebe meine. Er hat Hoffnungen für die Zukunft genau wie ich. Er glaubt an Castros Revolution, und ich glaube an die Macht der Bücher. Wir glauben nicht an dasselbe, aber die Kraft, die wir aus unserem Glauben schöpfen, ist dieselbe.
    Auch mit Marcus, dem Protagonisten in Philip Roths Empörung , verbindet mich nur sehr wenig. Marcus ist ein junger Jude aus Newark, der in den Fünfzigerjahren aufs College geht. Aber er liebt seine Eltern, genau wie ich, und hofft wie ich auf eine bessere Zukunft. Marcus spürt, genau wie ich, das Gewicht des Vertrauens, das andere in ihn setzen. Nach Anne-Maries Tod wollte ich meinen Eltern und Kindern die Sicherheit geben, dass ich gesund bleiben würde. Ich wollte, dass Jack sich in unserer Ehe aufgehoben fühlte und dass Natasha sich jederzeit an mich wenden konnte, wenn ihr danach war. Bereitwillig übernahm ich die Verantwortung dafür, sämtliche Schmerzen und Ängste meiner Familie zu lindern.
    Aber irgendwann fühlt sich Marcus von den Ambitionen seiner Eltern überfordert. Sohnespflichten, religiöse Vorschriften, gesellschaftliche Konventionen, die Collegeregeln, die sexuellen Wünsche seiner Kommilitoninnen: Er kann mit dem, was von ihm erwartet wird, nicht mehr mithalten, dabei will er es ja, er strengt sich wirklich an. Schließlich wird der Druck, der auf ihm lastet, zu groß, und er rebelliert, aber dieses Aufbegehren wird ihm zum Verhängnis. Immer hat er alle Regeln befolgt, doch als er einmal nicht tut, was von ihm erwartet wird, hat es fatale Folgen. Ihm wird klar, dass selbst »der kleinste Fehler tragische Auswirkungen haben kann«. Die Wahrheit dieser Aussage berührte mich zutiefst – das Leben ist so ungerecht –, und ich weinte über die Konsequenzen, die dieser Fehler für Marcus hatte.
    Ich las Demütigung neben unseren Forsythienbüschen, die in voller Blüte standen. Die Büsche stehen ganz hinten in unserem Garten, auf der Grundstücksgrenze, wo früher ein Dickicht aus Dornenranken, Giftsumach und bittersüßem Nachtschatten verkrüppelte Birnbäume überwucherte, dazwischen Unmengen von Laub und mannshohem Unkraut.
    Im Frühling nach unserem Einzug verbrachte ich Wochen damit, das Laub und Unkraut wegzuharken und die alles erstickenden Schlingpflanzen auszureißen. Ich beschnitt die Birnbäume und warf die Flaschen, Dosen und Zigarettenkippen, die im Dickicht lagen, in die Tonne. Ich buddelte Steine in Fußballgröße aus und schichtete sie zu einer Beeteinfassung auf. In die Löcher, die von den Steinen blieben, setzte ich kleine Forsythienreiser, die ich günstig bei unserer Baumschule erstanden hatte. Dazwischen pflanzte ich Tränendes Herz und Osterglocken. Ein schrecklich juckender – vom Giftsumach ausgelöster – Ausschlag bedeckte meine Arme. An meinen Knien

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