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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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und hörte nicht auf zu bluten. Die alte Frau erklärte, wie sie zu helfen gedachte: Sie würde den Rock schürzen, sich über die Wunde hocken und die Wunde nach alter Hausfrauenart desinfizieren: indem sie darauf pinkelte. Dann wies sie auf eine Schar von Jungen, die sich ihnen näherten, alles Freunde meines Vaters. Er hatte sie nicht kommen sehen.
    »Ich kann es tun, aber wenn die anderen Jungen dabei sind, ist es dir vielleicht unangenehm.«
    Mein Vater nickte.
    »Dann lauf schnell nach Hause und wasch dir das Bein mit Seife. Los.«
    Die Babuschka hatte meinem Vater in zweierlei Hinsicht Freundlichkeit erwiesen: Sie konnte ihm zu Hilfe kommen oder davon absehen, und die Entscheidung überließ sie meinem Vater. Noch heute trägt er die Narbe am Bein, aber wenn seine Freunde ihn in einer so kompromittierenden Situation gesehen hätten, wären vielleicht viel schlimmere, seelische Narben zurückgeblieben.
    Im Krieg gründete meine Großmutter in Belgien einen Wohltätigkeitsverein. Zu welchem Zweck? Die Socken der Familien zu stopfen, die während des Krieges kein Hauspersonal mehr hatten. Nach dem Krieg setzte sie ihre Strickkünste für die »armen Kinder im Kongo« ein. Warum Kinder, die im heißen Zentralafrika lebten, Wollsocken brauchten, habe ich nie verstanden, aber meine Großmutter hatte das Herz am rechten Fleck, und unbewusst wollte sie offenbar den Schrecken, die König Leopold II. im Kongo verbreitet hatte, etwas entgegensetzen.
    Dieselbe Großmutter war die Einzige in ihrer Familie, die einen Cousin willkommen hieß, der als Priester nach Afrika gegangen war, dann als Ehemann einer Afrikanerin zurückkam und drei dunkelhäutige Kinder mitbrachte. »Alle Liebe ist heilig«, war die Philosophie meiner Großmutter, und sie half der jungen Familie, ein Leben im provinziellen Belgien aufzubauen.
    Und mein Onkel George war entschlossen, seine Lieben unter allen Umständen durchzufüttern. In Deutschland war es nach dem Krieg schwer, genug zu essen zu finden. Onkel George gelang es trotz der Rationierung, meinen Vater zu ernähren. Er arbeitete in der Küche der amerikanischen Kaserne und schmuggelte Würstchen und Schinken für meinen Vater heraus, Nahrungsmittel, die meinen Vater am Leben hielten, bis er an der Universität von Regensburg eingeschrieben war und bei einem Ehepaar ein Zimmer bekam. Selbst dann noch brachte mein Onkel meinem Vater Lebensmittel, die der mit seiner Familie teilte, zum Dank, dass sie ihm ein Zuhause gegeben hatte.
    Onkel George arbeitete auch die nächsten dreißig Jahre für die Amerikaner und wurde schließlich Chefkoch auf einem amerikanischen Stützpunkt an der tschechischen Grenze. Als die Amerikaner ihn dabei ertappten, wie er Würstchen für sein Sonntagsessen stahl, wurde er entlassen. »Aber ich stehle schon seit dreißig Jahren Würstchen!«, rief er. Die Amerikaner hätten ihn gern behalten – er war ein guter Koch und ein fröhlicher Mensch, der sich mit allen gut verstand –, aber die Regeln mussten eingehalten werden. Onkel George fand Arbeit in einer Kneipe im Dorf, die bald zur Stammkneipe der GIs avancierte. Unter den Gästen waren auch jene Männer, die ihn aus dem Küchendienst entlassen hatten. Meine Schwestern und ich verstanden die Lektion so: Zwar verstößt Freundlichkeit manchmal gegen die Regeln, aber letztendlich ist sie stärker als jedes Gesetz.
    Ich wollte etwas tun, damit Meredith verstand, dass sie mir wichtig war und mir das, was ihr passiert war, naheging. Aber weder hatte sie sichtbare Wunden, die versorgt, noch Socken, die gestopft werden mussten. Ich hielt es nicht mit Gebeten, aber ich gab mir Mühe, ihre Lieblingsspeisen zu kochen und, im Gedenken an Onkel George, ein paar Würstchen zu braten.
    In ihrem Buch On Kindness schreiben die Autoren: »Wenn wir aus Freundlichkeit handeln, zeigt das auf unmissverständliche Weise, dass wir verletzliche Wesen sind, die keine bessere Zuflucht haben als einander.« Ich wollte Meredith Zuflucht bieten, aber wie? In dem Buch wird immer wieder die Fürsorglichkeit zwischen Eltern und Kind hervorgehoben – aber ich war nicht Merediths Mutter, ich war nicht ihre gleichaltrige Freundin, ich war auch nicht ihre Tante oder Großmutter, ihre Babysitterin oder Lehrerin. Die Beziehung zwischen Meredith und mir ist nicht immer einfach gewesen. Meredith war Jacks einzige Tochter, und ich war seine »eingebildete zweite Frau«. Es gab reichlich Gelegenheit für Zusammenstöße. Eine der ersten gemeinsamen

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