Tolstois Albtraum - Roman
und nickte bloß.
»Also«, sagte die Dame mit der Kamelie, »wir beginnen.«
Sie klatschte leise in die Hände, und im Raum kehrte Stille ein.
T. beschloss, sich ehrlich auf die Sache einzulassen. Er kniff die Augen zu und konzentrierte sich auf die flimmernde Schwärze vor den Lidern. Gespenstische Feuerfunken loderten darin auf, das Fensterrechteck, das auf der Netzhaut einen Abdruck hinterlassen hatte, schwamm schräg nach unten weg.
»Und wo ist hier der Leser? Überall natürlich. In Wirklichkeit ist er es, der das alles sieht. Sogar diesen meinen Gedanken denkt er – vielleicht deutlicher als ich selbst. Andererseits hat der Herr mit der gelben Krawatte sicher recht – der Leser schaut doch nur auf die Seite, ja. Darin besteht auch seine Funktion, die ihn zum Leser macht. Was soll er auch sonst tun, fragt man sich. Nun, auch ich schaue nur … Ja, aber wer ist dieses Ich, das schaut? Wozu braucht es überhaupt ein Ich, wenn nur der Leser schauen kann? Das ist das Rätsel. Ich muss noch viel denken. Oder umgekehrt, gar nicht denken …«
Die Dame mit der Kamelie klatschte wieder in die Hände, und T. begriff, dass die Zeit der Meditation vorbei war.
»Nun«, fragte die Dame, »irgendwelche interessanten Erlebnisse?«
Der Herr mit der gelben Krawatte hob den Finger.
»Wissen Sie, es passt nicht so ganz zum Thema, aber ich habe mir Folgendes überlegt … Der Leser ist nicht greifbar, körperlos. Er gleicht der eigenen Abwesenheit, der Leere. Mir kam also Folgendes in den Sinn: Der Mensch ist eine zeitweilige Krümmung der Leere. Damit er geboren werden kann, schlagen Papa und Mama Gott einen kleinen Nagel in den Geist und vom Wind der Zeit bleibt allerlei Zeug daran hängen. Siebzig Jahre vergehen und Gottes Organismus jagt den kleinen Nagel zum Teufel – zusammen mit dem ganzen Zeug, das daran hängengeblieben ist. Das ist eine Schutzreaktion, wie bei uns, wenn wir einen Splitter im Finger haben. Einen Menschen im strengen Sinn hat es nie gegeben, es gab nur so eine Art Hammerschlag, der für eine Sekunde die Aufmerksamkeit des Herrn erregte. Das Bewusstsein, das der Mensch für seines hält, ist in Wirklichkeit das Bewusstsein Gottes.«
»Das Wort ›Gott‹ ist hier überflüssig, würde ein Buddhist sagen«, bemerkte der Lama Dschambon.
»Und ein Chan-Buddhist würde sagen, dass hier alle Worte überflüssig sind«, ergänzte der nihilistisch aussehende junge Mann, dem T. auf der Treppe begegnet war – er saß neben Dschambon.
»Aber was ist der Sinn der Geburt?«, fragte die Dame mit der Kamelie.
»Wahrscheinlich der, dass Der Leser sich eine Zeit lang selbst vergessen möchte«, schlug die gelbe Krawatte vor. »Gerade das ist doch der Sinn des Lesens – sich eine Zeit lang selbst zu vergessen.«
Der Nihilist schüttelte energisch den Kopf.
»Ich bin nicht damit einverstanden«, sagte er, »dass das Absolute sich selbst vergessen will. Um sich selbst zu vergessen, muss man sich selbst kennen, und das Absolute kennt sich selbst nicht. Das hat Solowjow eindeutig versichert.«
»Ich bitte Sie!« Die gelbe Krawatte schlug die Hände zusammen. »Wie kann das Absolute sich selbst nicht kennen?«
»Wozu soll es sich selbst kennen? Das ist, als wenn man über den König der Könige sagen würde, was ist er für ein König, wenn er nicht einmal eine eigene Kuh in der Hütte hat – ja, wenn er vielleicht nicht einmal eine eigene Hütte hat.«
»Was heißt das – nicht einmal eine eigene Hütte?«
»Das heißt«, erwiderte der Nihilist, »dass das Absolute keinerlei Selbst hat, das man kennen oder nicht kennen kann. Das baumelt nur bei uns unter dem Bauch, mein Bester. Und auch das nicht bei allen.«
Die gelbe Krawatte öffnete den Mund, als hätte sie etwas äußerst Empörendes gehört, sagte aber nichts.
»Und nicht nur das«, fuhr der Nihilist hitzig fort, »die unbegreiflichste Qualität Gottes besteht darin, dass es Gott nicht gibt. Aber das, mein Bester, ist nichts, was man mit einem gesunden Universitätsverstand begreifen kann. Hören Sie auf, darüber nachzudenken, waschen Sie sich Ihren staatlichen Siegellack ab, vielleicht sehen Sie dann mit einem Auge … «
»Meine Herren«, unterbrach die Dame mit der Kamelie, »ich bitte Sie, gleiten Sie nicht ins Vulgäre ab. Wir haben Leute unter uns, die zum ersten Mal dabei sind – wir wollen sie nicht mit solchem Geplänkel ermüden. Versuchen wir doch, unser Treffen besonnener zu gestalten. Ich schlage vor, dass diejenigen, die dazu
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