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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Körper auf dem Dach, und dann … Dann waren in meinem Fenster nur noch der Himmel und die Sonne …‹«
    Axinja schrieb hastig in ihr Notizbuch und warf zwischendurch finstere, argwöhnische Blicke auf T., der bereits das Seil hinaufkletterte.
    Als er das Dach schon fast erreicht hatte, blickte T. nach unten und sah von weitem Olsufjew auf der Uferstraße an der Spitze einer seltsamen Prozession marschieren, die aus radikal aussehenden Studenten, einem Geistlichen und einem Paar gut gekleideter Herren bestand, die aussahen wie Vertreter des Richterstandes. Olsufjew gab lebhaft irgendwelche Erklärungen ab und fuchtelte beim Gehen mit den Armen.
    Mit einem letzten Blick auf die wie erstarrt auf dem Balkon stehende Axinja schwang T. das Bein in dem schwarzen Lederstiefel auf das abschüssige Blechdach, zog sich hinauf und war verschwunden.

XXIII
    Am nächsten Tag verließ T. das Hotel d’Europe um halb sechs. Bis zur Versammlung der Solowjow-Gesellschaft blieb nur noch eine halbe Stunde, doch die Miloserdny-Gasse war nur ein paar Schritte vom Newski entfernt.
    Anscheinend hatte die Presse eben erst vom Tod Pobedonoszews erfahren. Während T. den Newski hinunterschritt, kam es ihm vor, als würden die Zeitungsjungen, die die abendlichen Schlagzeilen hinausschrien, mit ihren hellen Stimmen direkt in sein Gehirn zielen, damit er sich umdrehe.
    GRAUENHAFTE KATASTROPHE IN POBEDONOSZEWS
    WOHNUNG!!
    OBERPROKURATOR UND DREI VERTRAUTE
    UMGEKOMMEN !!
    IN POBEDONOSZEWS WOHNUNG QUARZKRISTALLE
    GEFUNDEN !!
    EXPERIMENT MIT DOSTOJEWSKIS GEIST ENDET IN
    BLUTIGEM GEWALTAKT !!
    »Woher wissen sie das mit Dostojewski?«, überlegte T. »Wahrscheinlich reiner Zufall. Sie haben das Porträt bemerkt und gehört, dass Pobedonoszew sich nebenbei mit Spiritismus abgab … Warum schreien sie bloß so … Meine Nerven …«
    Aber er bog vom Newski ab, ohne eine Zeitung gekauft zu haben.
    Das Haus erwies sich als eine zweistöckige Stadtvilla, vor der wie Soldaten einer Ehrenwache ein paar alte Pappeln standen. Ein hübsches kleines Mädchen in einem weißen Kleid spielte Hüpfen in einem Hinkelkasten, der mit bunter Kreide vor der Eingangstür auf den Gehweg gemalt war. Sie maß T. mit strengem Blick, sagte aber nichts.
    In der kühlen Eingangshalle kontrollierte T. die Uhr. Es war zehn vor sechs – er war zu früh dran.
    Im Hauseingang stehen bleiben wollte er nicht, zudem drangen von oben fröhliche Stimmen herunter, und er entschloss sich, in den ersten Stock hinaufzugehen.
    Auf dem Treppenabsatz vor der einzigen Wohnungstür standen zwei und rauchten. Der eine war ein schnurrbärtiger junger Mann von dezentem, aber stilvoll-nihilistischem Aussehen, und der andere …
    Der andere war derselbe Lama, der T. das Porträt von Dostojewski und die Pillen in dem silbernen Schädel gebracht hatte. Dieses Mal trug er keine rote Kutte, sondern einen Rock und ein seitlich geknöpftes Stehkragenhemd, worin er aussah wie ein kultivierter asiatischer Arbeiter – obwohl die tiefe Kratzwunde quer über das Gesicht Zweifel an seiner Kultiviertheit aufkommen ließ.
    Der Lama Dschambon und T. entdeckten einander gleichzeitig.
    Auf der Miene des Lamas malte sich Entsetzen und er wich unwillkürlich zurück, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. Sein nihilistischer Begleiter drehte sich um, sah T. und fuhr mit seiner rechten Hand in die Tasche.
    T. hob in einer beschwichtigenden Geste beide Hände.
    »Meine Herren«, sagte er. »Ich bitte Sie, bewahren Sie Ruhe. Ich will zur Versammlung der Solowjow-Gesellschaft und werde niemandem Unannehmlichkeiten bereiten. Und Sie, mein Herr«, T. drehte sich zu dem verkleideten Lama um, »bitte ich, das Missverständnis zwischen uns zu entschuldigen. Glauben Sie mir, es ist mir sehr peinlich, aber auf eine gewisse Art und Weise waren Sie selbst der Anlass. Dafür ist mir aber jetzt klar, warum Sie die dreifache Bezahlung verlangt haben …«
    Der Lama Dschambon unterstützte diesen zaghaften Versuch zu scherzen nicht – er drehte sich um und verschwand in der Wohnung. Der Nihilist zog die Hand aus der Tasche, musterte T. mit wachsamen Blicken, folgte dann dem Lama und lehnte die Tür hinter sich an.
    T. war nun allein auf dem Treppenabsatz.
    »Zum Teufel«, dachte er. »Das ist jetzt aber wirklich unangenehm …«
    Er wartete, bis die Uhr fünf nach sechs zeigte, und klingelte.
    Ein livrierter Lakai mit grauen Koteletten, den er an einem solchen Ort nicht erwartet hätte, öffnete ihm die Tür.
    »Werden Sie

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