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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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»Das ging manchmal fast bis zum Handgemenge … Doch letztlich hat er mir geholfen, eine wichtige Sache zu begreifen. Sie haben wahrscheinlich gehört, dass der Begriff der Leere im Buddhismus eine große Rolle spielt. Dabei gilt, dass man sie nicht intellektuell, sondern unmittelbar erreichen muss, was erst nach vielen Jahren der Praxis möglich ist. Als ich noch jung war, interessierte mich diese Frage und ich ging bei vielen Lamas in die Lehre. Später dann gelang es mir selbst, aber ich wurde das Gefühl nicht los, an der Prozedur sei irgendetwas eigenartig Falsches … Ermüde ich Sie auch nicht?«
    »Nein, ich bitte Sie«, sagte die Dame mit der Kamelie. »Es ist sehr interessant.«
    »Solowjow«, fuhr Dschambon fort, »erklärte, was dieses unmittelbare Erreichen der Leere in ihrer tibetischen Version bedeutet. Nach seinen Worten unterscheidet sich dieser Prozess nicht von der Visualisierung der Götter, deren Bilder ein Lama nach langjähriger Übung jederzeit mühelos in seinem Bewusstsein aufrufen kann. Nur handelt es sich im Fall der Leere nicht um eine Visualisierung, sondern, wie er es nannte, um eine ›Mentalisierung‹. Um einen Vergleich zu bringen: Wenn Sie sich der Leere der Welt nach tibetischem Ritus bewusst werden, wird dieselbe Funktion des Geistes aktiviert, die uns ermöglicht, in einem feisten Bauern einen Ausbeuter und Kulaken zu sehen.«
    »Was bedeutet ›Mentalisierung‹?«, fragte die gelbe Krawatte.
    »Das erkläre ich Ihnen gleich«, erwiderte Dschambon. »Sehen Sie, zuerst erklären Lamas einem Schüler die philosophische Kategorie der Leere. Dann lehren sie ihn, die leere Natur der vergänglichen Dinge zu sehen. Daraufhin erläutern sie ihm, dass die Leere des Geistes dem bewussten Raum ähnlich ist, und so weiter. Nach einer gewissen Zeit verdichten sich diese geistigen Konstruktionen so sehr in der Zeit, dass sie wie eine unmittelbare Wahrnehmung wirken – dass, wie die Lamas selbst sagen, ›das Erdachte zum Nicht-Erdachten wird‹. Das nennen sie das unmittelbare Erleben der Wahrheit.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte der Herr mit dem Walrossbart weinerlich.
    Dschambon überlegte einen Augenblick und suchte nach Worten.
    »Wenn wir lernen, Fahrrad zu fahren«, sagte er, »hören wir auf, darüber nachzudenken, wie wir den Lenker drehen sollen, um nicht zu stürzen. Das geht alles ganz von selbst. Doch das bedeutet nicht, dass wir nicht mehr nachdenken, wie wir den Lenker drehen sollen. Wir geben uns nur keine Rechenschaft darüber – die Handlung des Geistes wird nicht mehr als solche erkannt. Hier ist es genau das gleiche. Wir geben den denkenden Geist nicht auf, nur wird das immer in denselben Bahnen laufende Denken sozusagen von sich selbst nicht mehr wahrgenommen. Der Mensch ist doch gar nicht in der Lage, das wahrzunehmen, was er nicht weiß. Er kann nur bekannte Muster erkennen – oder, was dasselbe ist, sie nach außen projizieren. Als Kinder haben wir gelernt, Hund und Katze an ihrer Form und Farbe zu erkennen, und hier lernen wir, ein aus Worten gemachtes Tier zu sehen, das keine Form und keine Farbe hat. Doch ihrem Wesen nach unterscheidet sich die ›Kontemplation über die Natur des Geistes‹ in der tibetischen Version nur wenig von der Visualisierung eines grünen Teufels, der eine Halskette aus Schädeln trägt und einen Mund im Bauch hat.«
    »Warum?«, fragte der Herr mit dem Walrossbart im selben weinerlichen Ton.
    »Weil es in Wirklichkeit keinen Geist gibt«, erwiderte Dschambon. »Genauso wie es keinen grünen Teufel gibt. Der Geist ist nur Mittel zum Sprechen. Was für eine Natur kann er also haben? Und was für eine Leere – in Bezug worauf?«
    »Sie meinen, Lamas verstehen das alles nicht?«, fragte die gelbe Krawatte.
    »Sagen wir es so, sie machen einen vorsichtigen Bogen um diese Frage. Sie sagen, man muss keine erfundene Leere sehen, sondern die, die es in Wirklichkeit gibt. Obwohl dieser Rat auch eine falsche Spur legt, weil es keine Leere gibt, solange wir sie nicht aus dem Wort ›Leere‹ erschaffen – und genauso kann man aus Worten einen ›heiligen Geist‹ oder die ›Weltrevolution‹ erschaffen. Aber diese Prozedur wird im Lamaismus ebenso sorgfältig verborgen wie sexuelle Äußerungen im viktorianischen England. Sämtliche religiösen Sekten, die sich auf Phantomworte stützen, sind im Grunde gleichermaßen nutzlos. Sie sind einfach unterschiedliche Formen des Satanismus.«
    »Oho«, sagte ein Herr aus der letzten Reihe, der

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