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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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in der Stimmung sind, etwas Interessantes über Solowjow erzählen – etwas über ihn, an das sie sich erinnern … Hat jemand etwas dagegen?«
    Es gab keine Einwände im Salon.
    »Dann beginne ich bei mir selbst«, sagte die Dame. »Viele wissen, dass Solowjow mit seinem geistigen Sehen nicht nur Ereignisse der Zukunft sehen konnte, sondern auch Texte, die erst noch geschrieben werden müssen. Bisweilen konnte er sie sogar zitieren. In den letzten Tagen musste ich oft an eine solche Begebenheit denken … Wissen Sie, es war ein unvergessliches Bild, wenn er einen Blick in die Zukunft warf. Man hatte den Eindruck, als schwebte er unter der Kuppel einer riesigen himmlischen Bibliothek, vor einer Art unsichtbarer Kartei, deren Schubladen er mit seinem Blick öffnen konnte. In solchen Momenten kam es mir vor, als sähe ich ihn von unten, während er sich emporschwang, obwohl wir dabei noch immer nebeneinanderlagen … das heißt standen. Es war, als könnte er sehen, wie sich die Fragmente eines universellen Wissens, das in Bruchstücke zersplittert verschiedenen Menschen zuteil geworden war, zueinander verhalten. Er sah diese Bruchstücke durch Zeit und Raum und konnte sie zu einem Ganzen zusammenfügen …«
    »Die Begebenheit«, erinnerte der Herr mit dem Walrossbart. »Sie sprachen von einer Begebenheit, an die Sie oft zurückdenken.«
    »Ja«, sagte die Dame mit der Kamelie. »Vielen Dank. Einmal sprachen wir über Bücher und er bemerkte, dass die sogenannte geistige Literatur großenteils nutzlos sei. Die erstaunlichsten Perlen seien in solchen Büchern verborgen, die keinerlei Anspruch auf eine besondere Seelentiefe erheben. Zum Beweis dafür zitierte er aus dem Buch eines künftigen russischen Schriftstellers, der, warum auch immer, auf Englisch schreibt. Es war nur ein ganz kurzer Ausschnitt und handelte von einem sterbenden Mann. Ich weiß noch, dass der Sterbende mit einem Knoten in einer Saite verglichen wurde. Solowjow übersetzte es genau so – in einer Saite –, obwohl dort das englische Wort string stand, was auch eine einfache Schnur bedeuten kann. Wenn ich gleich zum Ende komme, wird es klar, warum … Der Sterbende ist also wie ein Knoten, den man im Nu lösen kann, wenn man die Saite darin erkennt – denn auch der komplizierteste Knoten besteht nur aus den Schlingen und Schlaufen der Saite. Wenn man es sich recht überlegt, gibt es gar keinen Knoten, es gibt nur die Saite, die die Form eines Knotens angenommen hat. Und wenn wir ihn lösen, ist nicht nur der Knoten selbst gelöst, sondern die ganze Welt …«
    »Schön«, sagte jemand. »Und was ist das für ein Schriftsteller?«
    »Ich erinnere mich nicht genau«, erwiderte die Dame. »Ein Vogelname – Filin oder Alkonost. 78 Danach wandte Solowjow sich einer anderen Schublade seiner himmlischen Kartei zu, blickte hinein, lächelte und sagte: Die Physiker, die jetzt im Bauch des Atoms herumwühlen, werden künftig herausfinden, dass es gar keine Teilchen gibt, sondern etwas anderes, eine Saite, einen string , und Wellen, die daran entlanglaufen – wie bei einer langen Wäscheleine, wenn man am einen Ende zieht. Und all das, woraus die Welt besteht, selbst das, woraus sie vor ihrer Entstehung bestand – all das sind nur verschiedene Schwingungen ein und derselben Saite … Dann habe ich ihn gefragt, wer zupft denn an dieser Saite, damit die Schwingungen entstehen? Er lachte und sagte: Du! Wer denn sonst?«
    »Das habe ich nicht ganz verstanden«, bemerkte der Journalist mit dem Walrossbart und lächelte verkrampft.
    »Ich damals auch nicht«, sagte die Dame mit der Kamelie. »Aber wissen Sie, diese Worte verströmten für mich sogleich etwas Wundersames, etwas … als seien wir alle schon erlöst und wüssten nur noch nichts davon. Vor allem aber schenkten seine Worte einem immer wieder Hoffnung. Das gibt es manchmal – alles ist abgrundtief schlecht, allen ist düster ums Herz, und dann kommt jemand und bringt gute Neuigkeiten. Keiner weiß so recht, warum, aber alle werden von einer elektrischen Welle erfasst, etwas überträgt sich vom einen zum Nächsten und sofort ist alles anders. Und auch er war so ein Mensch, der gute Neuigkeiten brachte …«
    »Alle Neuigkeiten sind gut«, sagte der Lama Dschambon.
    Die Leute drehten sich zu ihm um, manche, wie es T. schien, mit Befremden. Dschambon hielt sich die Hand vor den Mund und räusperte sich mit einem Blick auf T.
    »Wladimir Sergejewitsch und ich haben uns oft gestritten«, begann er.

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