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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Buch des Lebens, sondern sein Leser. Das Licht, das die Seite sichtbar macht. Doch das Wesen aller irdischen Geschichten besteht darin, dass dieses ewige Licht hinter der Schmiererei nichtswürdiger Autoren zurückbleibt und so lange nicht imstande ist, sich zu seinem wahren Schicksal zu erheben, solange nicht im Buch des Lebens darüber geschrieben wird … Zudem kann nur das Licht wissen, worin das Schicksal des Lichts besteht.
    Solowjow
    Unter dem Porträt hing ein drittes Stück Pappe:
    Geistreiches Nichtstun ist sorgenfrei. Wenn man es in der symbolischen Sprache des Moments beschreiben würde, dann so – Eure Majestät, denken Sie daran, dass Sie der Imperator sind, und lassen Sie den Gedanken frei!
    Solowjow
    »Das haben sie wegen der Gendarmen aufgehängt«, dachte T. »Obwohl … Pobedonoszew hat doch den heiligen Hesychios und den ›Gedanken-Autokrator‹ erwähnt. Schade, dass wir das nicht mehr eingehend besprechen konnten …«
    Die Dame mit der Kamelie bemerkte seinen Blick und lächelte.
    »Ja, geistige Konstrukte mochte Wladimir Sergejewitsch nicht besonders … Aber seine heimlichen Anhänger in den höchsten Kreisen verstehen alles viel zu wörtlich. So viele Gedanken hat man schon freigelassen – aber er hat überhaupt nicht das gemeint.«
    »Was denn?«, fragte T. »Und was für ein Imperator?«
    »Wenn Sie gestatten, erkläre ich es Ihnen nach der Versammlung, das kann man nicht in zwei Worten sagen. Jetzt ist keine Zeit mehr dazu. Setzen Sie sich hierher, an den Rand …«
    Sie klatschte leicht in die Hände.
    »Also, beginnen wir. Wladimir Sergejewitsch wollte nicht, dass wir unsere Treffen im Gedenken an ihn nach einem bestimmten Ritual durchführen. Er wünschte nicht, dass wir es einer religiösen Sekte gleichtun – das war seine größte Angst. Er hat in etwa Folgendes gesagt: Trefft euch, denkt an mich, lacht ein wenig …«
    Der Dame mit der Kamelie zitterte die Stimme und sie blinzelte, und T. glaubte plötzlich, ohne ersichtlichen Grund für eine solche Annahme, sie sei wahrscheinlich früher Solowjows Freundin gewesen und das Mädchen, das er draußen vor dem Eingang gesehen hatte, sei ihrer beider Tochter.
    »Aber dennoch«, fuhr die Dame fort, »haben sich bei unserer kleinen Gesellschaft mittlerweile unweigerlich einige Traditionen herausgebildet und es wäre töricht, das zu bestreiten. Die dankbare Erinnerung an Wladimir Sergejewitsch hat sich sozusagen bestimmte Pfade gebahnt … Einer davon ist die kurze Meditation, mit der wir unsere Treffen beginnen. Das Wesentliche ist, dass wir tief in uns hineinblicken und in uns Den Leser zu spüren suchen – jene geheimnisvolle Kraft, die uns in ebendieser Minute erschafft … Jeder ist frei, das nach seinem Gutdünken zu tun, hier gibt es keine bestimmte Technik oder Regel … Wollten Sie etwas sagen?«
    »Ich?«, fragte T. erstaunt, als er bemerkte, dass die Dame ihn ansah.
    »Verzeihen Sie, aber Sie haben so … so die Augenbrauen hochgezogen, dass ich dachte …«
    »Nein, nein«, versetzte T. »Ich habe keinerlei Einwände. Aber soweit ich die Lehre von Wladimir Sergejewitsch verstehe, ist es sinnlos zu versuchen, den Leser in sich zu suchen.«
    Die Dame mit der Kamelie errötete leicht.
    »Wieso meinen Sie das?«
    »Weil der Leser nicht in uns ist«, erwiderte T. »Vielmehr erscheinen wir für einen Moment in seinem gedanklichen Blick und verschwinden wieder, wie herbstliche Blätter, die der Wind vor dem Dachfenster umherwirbelt.«
    »Was für ein poetisches Bild«, bemerkte die Dame mit der Kamelie. »Wenn auch ein wenig düster. Dann versuchen Sie eben, dieses Dachfenster zu sehen, und lassen Sie sich wie ein trockenes Eichenblatt davor herumwirbeln … Ich sagte ja, dass wir keine für alle verbindliche Prozedur haben.«
    »Meine Herrschaften, ich wollte niemandem widersprechen«, murmelte T. bestürzt. »Ich wollte lediglich sagen, dass der Leser eine prinzipiell transzendente Präsenz in unserer Dimension ist, weshalb er uns nicht als Empfindung gegeben sein kann.«
    »Wissen Sie, mein Herr«, mischte sich lächelnd ein Herr mit breiter gelber Krawatte ein, der aussah wie ein freier Künstler, »ich habe Wladimir Sergejewitsch einmal fast das Gleiche gesagt. Und wissen Sie, was er geantwortet hat? Er lächelte und sagte: Das, was du sagst, ist kompliziert, die Wahrheit aber ist einfach. Der Leser schaut einfach nur. Mach es genauso – schau einfach nur. Mehr ist gar nicht nötig.«
    T. wusste nichts darauf zu antworten

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