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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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erwartet?«, fragte er.
    »Nein, aber …«
    »Ich habe Anweisung, nur solche Herrschaften einzulassen, die erwartet werden«, sagte der Lakai.
    »Gestatten Sie, aber …«
    »Ich habe meine Anweisung«, wiederholte der Lakai und versuchte, die Tür zu schließen.
    T. schob den Fuß in den Spalt und rief:
    »Meine Herrschaften! Ich komme wegen Wladimir Sergejewitsch Solowjow! Geben Sie Anweisung, dass man mich einlässt!«
    »Mach auf, Philemon«, erklang eine weibliche Stimme aus der Wohnung, und der Lakai ging gehorsam einen Schritt zurück.
    T. trat ein und erblickte im Vorraum eine hochgewachsene schlanke Dame in einem dunklen Kleid mit einer Schmuckbrosche in Form einer Kamelie.
    »Was wünschen Sie?«, fragte sie und musterte T. aufmerksam.
    »Wissen Sie, ich habe durch Bekannte erfahren, dass sich hier die Solowjow-Gesellschaft versammelt. Ich bin ein Bekannter von Wladimir Sergejewitsch, und mir schien …«
    Die Dame lächelte.
    »Wir hängen unsere Treffen nicht an die große Glocke«, bemerkte sie. »Außerdem ist ›Gesellschaft‹ ein bisschen übertrieben. Es ist eher eine Versammlung von Freunden. Wie können Sie uns beweisen, dass Sie Wladimir Sergejewitsch kennen?«
    T. zog die Fotografie, die er von Olsufjew erhalten hatte, aus der Innentasche.
    »Hier, bitte«, sagte er. »Nur ist Solowjow hier noch jung …«
    Die Dame betrachtete die Fotografie prüfend, las dann die Aufschrift auf der Rückseite und sagte:
    »Ja, kein Zweifel, das ist Wladimir Sergejewitsch. Aber Sie, mein Herr, haben sich seither stark verändert. Wie heißen Sie?«
    »T.«, erwiderte T. »Graf T.«
    Die Dame erbleichte ein wenig.
    »Dann stimmt es also«, sagte sie. »Und ich dachte schon, die Jugend wollte mich auf den Arm nehmen … Bei allem Respekt, aber Ihre skandalöse, abschreckende Reputation, Graf … Außerdem ist einer unserer Gäste, der Lama Dschambon, furchtbar erschrocken über Ihr Erscheinen, weil er bereits mit Ihnen zu tun hatte – wir haben ihm Beruhigungstropfen gegeben. Ich habe im Grunde genommen nichts gegen Kriminelle, aber die Presse ist anwesend. Wir haben einen Reporter eingeladen, um die progressiven Zeitungen auf das Schicksal von Wladimir Sergejewitsch aufmerksam zu machen, und wenn Sie nun bei der Sitzung auftauchen …«
    »Ich verspreche, keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten«, sagte T. unterwürfig. »Ich möchte nur zuhören. Und vielleicht ein paar Fragen stellen.«
    Die Dame zog eine zweifelnde Miene.
    »Ist Ihnen bekannt«, fragte sie, »dass unsere Versammlungen polizeilich verboten sind? Sie könnten noch mehr Unannehmlichkeiten bekommen, wenn man Sie hier entdeckt.«
    T. winkte ab.
    »So eine Kleinigkeit beunruhigt mich ganz und gar nicht. Wenn Sie wüssten, wie wichtig jedes Wort über Solowjow für mich ist, würden Sie keine Sekunde zögern.«
    Die Dame besah sich noch einmal die Fotografie und gab sie T. zurück.
    »Na schön«, sagte sie. »Außerdem – wer bin ich denn, dass ich Ihnen das verweigern dürfte? Setzen Sie sich aber nicht neben Lama Dschambon. Sie dürfen Fragen stellen, doch bitte unterbrechen Sie die Redner nicht. Folgen Sie mir.«
    Im dem mit Porträtabzügen (Epiktet, Marc Aurel und noch jemand mit Bart) geschmückten Salon saßen etwa zehn Personen unterschiedlichen Alters und Aussehens. T. erkannte den Journalisten, von dem die Dame mit der Kamelie gesprochen hatte, sofort: ein Herr mit Walrossbart und hochrotem, apoplektischem Hals, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Knopf hatte (er trug sogar einen schokoladenbraunen karierten Anzug). Er saß etwas abseits von den übrigen Besuchern.
    Die Stühle im Salon waren in einem Halbkreis auf diejenige Wand hin angeordnet, an der gleichsam im Fokus der Aufmerksamkeit ein Bleistiftporträt von Solowjow hing, von derselben Größe wie die Porträtabzüge der Philosophen. Solowjow sah merklich älter aus als auf der Fotografie, die T. der Dame gezeigt hatte, und sein Schnurrbart war länger und hing beinahe bis auf die Brust herunter.
    Links von seinem Porträt klebte ein quadratisches Stück Pappe an der Wand, auf dem handschriftlich geschrieben stand:
    Der Geist ist ein geistloser Affe, der auf den Abgrund zurast. Dabei ist der Gedanke, dass der Geist ein geistloser Affe ist, der auf den Abgrund zurast, nichts anderes als der kokette Versuch des geistlosen Affen, auf dem Weg zum Abhang seine Frisur zu verbessern.
    Solowjow
    Rechts von dem Porträt klebte ein anderes, größeres Stück Pappe:
    Du bist keine Zeile im

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