Tolstois Albtraum - Roman
aussah wie ein Professor, »ein strenges Urteil.«
»Ja … Ich war natürlich verärgert und fragte, wie man dann die Wahrheit sehen solle. Solowjow überlegte einen Augenblick, blickte in seine Himmelskuppel und antwortete: Man kann die Wahrheit nicht sehen, weil es niemanden gibt, der sie ansehen könnte. Dann sagte er noch, jeder kennt die Wahrheit, nur weiß er nicht, dass er sie kennt …«
Die Dame mit der Kamelie hob die Hand:
»Wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte sie, »meinte Graf T. etwas Ähnliches, als er sagte, dass man Den Leser in sich unmöglich sehen kann, sosehr man es auch versucht. Solowjow aber hätte noch hinzugefügt, dass man auch nicht aufhören kann, ihn zu sehen. Sehen Sie hier nicht eine Parallele, Graf?«
Die Leute wandten sich nach T. um. Er breitete die Hände aus und gab damit zu erkennen, dass er sich der öffentlichen Meinung gänzlich unterwarf. Die Dame mit der Kamelie sagte zu Dschambon:
»Bitte fahren Sie fort.«
»Über die Natur Buddhas«, fuhr Dschambon mit einem feindseligen Seitenblick auf T. fort, »hat Solowjow gesagt, er kenne nur ein Beispiel, bei dem man darüber gesprochen habe, ohne Buddha zu schmähen – auch wenn es wie reinste Gotteslästerung ausgesehen habe.«
»Erzählen Sie.«
»Im chinesischen Buddhismus gab es die Chan-Sekte. Ihre Anhänger lehnten die heiligen Schriften ab und lehrten, sich nicht auf Worte und Zeichen zu stützen. Dennoch kamen häufig Laien und allerlei Wahrheitssucher zu ihnen und stellten Fragen nach dem Sinn der Lehre Buddhas. Die Chan-Lehrer antworteten gewöhnlich auf recht ungehobelte Art – mit einem Stockschlag oder einer Beschimpfung. Einer von ihnen mit Namen Linji tat sich dabei besonders hervor, indem er zur Antwort auf die Frage, was Buddha sei, erklärte, das sei das Loch im Abtritt.«
»Pfui«, sagte die Dame mit der Kamelie. »Das ist ja widerlich!«
»Gewöhnlich versteht man diese Antwort in dem Sinn«, fuhr Dschambon fort, »dass Linji lehrte, man solle sich nicht an Begriffe und Konzeptionen hängen, selbst wenn diese Konzeption Buddha ist. Aber Solowjow war der Ansicht, das sei die genaueste Erklärung, die es geben könnte. Stellen Sie sich ein schmutziges, vollgeschissenes Klosett vor, sagte er. Gibt es da auch nur irgendetwas Sauberes? Ja, gibt es. Das Loch in der Mitte. Nichts kann dieses Loch beschmutzen. Alles fällt einfach hindurch und nach unten. Dieses Loch hat keine Ränder, keine Grenzen, keine Form, das alles hat nur der Klosettdeckel. Gleichzeitig existiert dieser ganze Tempel der Unsauberkeit ausschließlich dank dieses Lochs. Dieses Loch ist das Wichtigste am Abtritt und zugleich etwas, das überhaupt keinerlei Bezug zu ihm hat. Mehr noch, nicht seine eigene Natur macht das Loch zum Loch, sondern das, was die Menschen darum herum erbaut haben: der Abtritt. Aber eine eigene Natur hat dieses Loch einfach nicht – jedenfalls so lange nicht, bis der Lama, der sich auf den Klosettdeckel setzt, es in die drei Kayas ** teilt …«
»Das ist ganz ähnlich wie Solowjows Definition Des Lesers«, bemerkte die Dame mit der Kamelie. »Geradezu eine wörtliche Übereinstimmung. Sehen Sie – Der Leser, dank dem wir auf der Welt erscheinen, ist vollkommen unsichtbar und ungreifbar. Er ist gleichsam getrennt von der Welt – dabei entsteht die Welt nur dank ihm! Im Grunde gibt es nur ihn, Den Leser. Dabei ist er in der Realität, die er erschafft, gar nicht vorhanden! Obwohl im Grunde nicht wir dieses Paradox erkennen, sondern er … Wir sind Freidenker, aber Sie sind eine Person mongolischer Nationalität. Sind Sie nicht erschüttert von dieser Haltung Ihrer Religion gegenüber?«
»Wissen Sie«, sagte Dschambon, »Solowjow hat nicht mit Buddha gestritten. Er sagte lediglich, seine Natur durch lamaistische Praktiken erfassen zu wollen sei dasselbe, wie das Loch im Abtritt durch tägliche Visualisierung eines traditionellen tibetischen Klosettdeckels mit Mantras und Porträts von Lamas in gelben und roten Kappen zu erforschen. Man kann ein Leben lang solche Klosettdeckel sammeln – sämtliche tibetischen Stickzirkel, die ständig darum streiten, wer von ihnen einen echten Klosettdeckel aus Tibet hat und wer bloß einen billigen Nachbau, tun das. Aber zu dem Loch hat das überhaupt keinen Bezug.«
»Aber ein Loch ist doch in jeder dieser Vorrichtungen vorhanden«, bemerkte der Journalist mit dem Walrossbart.
»Stimmt. Aber nicht jedes hat einen Sinn, wie ein Tulku sagen würde. Ein Tulku ist
Weitere Kostenlose Bücher