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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ein wiedergeborener Lama, so wie ich. Über die hat Solowjow sich übrigens auch geäußert – er sagte, es gibt zwei Kategorien von Menschen, die an wiedergeborene Lamas glauben: die analphabetischen Nomaden aus dem Land des Schnees und die vom unstillbaren Verlangen nach geistiger Verklärung gepackten europäischen Intellektuellen.«
    »Wie – hat Solowjow den tibetischen Buddhismus etwa abgelehnt?«
    »Im Gegenteil«, erwiderte Dschambon. »Er hat dem tibetischen Buddhismus die größtmögliche Verbreitung vorhergesagt, weil diese Weltanschauung jedem x-beliebigen Büroangestellten schon nach zwei S é ancen die Möglichkeit gibt, alle übrigen Menschen als Knallköpfe zu bezeichnen.«
    »Sie vertreten aber merkwürdige Ansichten«, bemerkte der Journalist mit dem Walrossbart. »Dabei sind Sie selbst Buddhist, oder nicht?«
    »Was finden Sie denn daran merkwürdig? Die Lehre Buddhas besteht doch nicht aus einem Sortiment von Regeln und Vorschriften, die eine aufgeblasene Klosterbürokratie zweitausend Jahre lang redigiert, sondern darin, mit jedem verfügbaren Wasserfahrzeug an das Andere Ufer überzusetzen. Das Weitere werden Sie selbst herausfinden. Gate gate Pāragate Pārasamgate Bodhi svāhā !«
    »Wir sind vom Thema abgekommen«, mischte sich die Dame mit der Kamelie mit einem kurzen Blick auf T. ein. »Jetzt sind wir schon beim Sanskrit. Ich fürchte, verehrter Lama Dschambon, Sie sprechen allzu kompliziert für die Mehrzahl der Anwesenden – wir haben nicht die Ehre, gelehrte Mongolen zu sein. Aber Sie haben eine wirklich interessante Sache erwähnt. Was sind das für Phantomworte, auf die sich religiöse Sekten stützen?«
    Dschambon blickte sich um, als suche er einen passenden Gegenstand, doch allem Anschein nach konnte er nichts Geeignetes finden. Daraufhin hob er die Hand und spreizte die gekrümmten Finger, als hielte er einen unsichtbaren Pflasterstein gepackt.
    »Wörter sind ein uraltes Instrument«, sagte er. »Sie kamen deshalb auf, weil man so bequemer Jagd auf Großwild machen konnte. Ich kann sagen: ›die Hand, die Keule, das Mammut‹. Und dann, bitte sehr, kann ich die Keule in die Hand nehmen und dem Mammut eins aufs Maul geben. Aber wenn wir sagen ›das Ich‹, ›das Sein‹, ›die Seele‹, ›der Geist‹, ›das Dao‹, ›Gott‹, ›die Leere‹, ›das Absolute‹ – dann sind das alles Phantomworte. Sie haben keine konkrete Entsprechung in der Realität, sie sind lediglich ein Mittel, unsere geistige Energie in einem Strudel von bestimmter Form zu bündeln. Allmählich sehen wir dann das Abbild dieses Strudels im Spiegel unseres eigenen Bewusstseins. Und dieses Abbild wird ebenso real wie materielle Objekte, manchmal sogar noch realer. Dann fließt unser Leben in diesem Garten undurchsichtiger Bedeutungen dahin, im Schatten der weitverzweigten Gedankenkonstruktionen, die wir von morgens bis abends anhäufen, selbst wenn wir aufhören, sie zu bemerken. Während jedoch die Realität der physischen Welt nicht von uns abhängt – jedenfalls nicht von den meisten von uns –, werden die mentalen Bilder gänzlich von uns erschaffen. Sie entstehen aus der Anstrengung des Geistes, der die Gewichte der Wörter stemmt. Und unsere geheime Natur kann aus demselben Grund nicht in Wörtern ausgedrückt werden, aus dem sich Stille nicht auf der Balalaika spielen lässt.«
    Der Professor in der letzten Reihe applaudierte – aber niemand schloss sich ihm an.
    »Was für bemerkenswert kluge, hervorragende, wunderbare Menschen«, dachte T. bewegt. »Aber wenn ich ihnen jetzt erzähle, was ich über ihre Welt und über sie selbst vollkommen sicher weiß, dann halten sie mich für einen Psychopathen … Vor allem, wenn ich ihnen erkläre, warum sie jetzt über all das reden … Unser Leben ist ein Rätsel …«
    Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Dann geschah etwas mit dem Journalisten mit dem Walrossbart. Er vollführte ein paar hastige, nervöse Bewegungen, als stünde er unter Strom, und rief aus:
    »Aber wie kann das sein? Ich sehe nichts als Widersprüche. Dem einen sagt Solowjow: Du bist eine Saite. Dem anderen sagt er: Du bist eine Leerstelle. Einem Dritten sagt er: Du bist bloß ein unbegreiflicher Strudel. Dabei kann der Mensch unmöglich gleichzeitig eine Saite und eine Leerstelle sein. Und außerdem, wie kann der Geist die Gewichte der Wörter stemmen, wenn es gar keinen Geist gibt?«
    »Darüber hat er auch gesprochen«, sagte Dschambon. »Wörter, die für einen bestimmten

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