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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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wirklich unterhalten. Wie heißen Sie?«
    »Wassili Tschapajew«, 80 stellte der junge Mann sich vor. »Übrigens wünsche ich mir seit Langem, Sie kennenzulernen, Graf.«
    T. schüttelte schweigend die ihm entgegengestreckte Hand.
    »Wie gefällt Ihnen unsere kleine Gesellschaft?«
    »Oh«, erwiderte T., »ich bin beeindruckt. So müsste meines Erachtens der Umgang unter normalen Menschen sein. Aber infolge einer Reihe von Umständen habe ich es mit einem ganz anderen Publikum zu tun.«
    »Nun, da sind Sie nicht allein«, sagte Tschapajew und für einen Augenblick spiegelte sich auf seinem strengen Gesicht ein unterdrücktes Leid.
    »Nur bin ich mit vielem, was ich gehört habe, nicht einverstanden«, fuhr T. fort.
    »Womit denn?«
    »Zum Beispiel die Sache mit dem Nagel, der dem bösen Gott in den Kopf geschlagen wird und nach einer Zeit wieder rausfällt. Das kommt der Wahrheit sehr nahe. Aber es ist zu brutal und zu dumm, um wahr zu sein.«
    »Wie würden Sie denn die Welt einrichten, wenn Sie es selbst bestimmen könnten?«
    T. überlegte.
    »Der Sinn besteht gerade darin, dass ein Staubkorn, dass Staub zum Leben erwacht, sich seiner bewusst wird und in den Himmel gelangt. Das ist der Lauf der Dinge … Darin muss sich auch die himmlische Liebe zeigen. Wen soll der allmächtige Himmel lieben, wenn nicht ein winziges Staubkorn?«
    Tschapajew lächelte.
    »Ja«, sagte er leise. »Das ist der Lauf der Dinge. Ich habe vor Kurzem ein altes Buch gelesen und wissen Sie, was mich verblüfft hat? Ein einfacher Gedanke, der Ihren Worten entspricht. Er lautete in etwa so: ›Das, was ist, wird niemals verschwinden. Das, was nicht ist, wird nie zu sein beginnen.‹ Wenn es das Staubkorn gibt, dann bedeutet das schon, dass es sich durch nichts vom Himmel unterscheidet.«
    »Andererseits«, sagte T., »wenn es scheint, als gebe es das Staubkorn, bedeutet das noch nicht, dass es das Staubkorn tatsächlich gibt. In Wirklichkeit gibt es nur das, was das Staubkorn sieht.«
    »Natürlich«, stimmte Tschapajew zu. »Der Himmel sieht das Staubkorn und uns alle. Aber wissen Sie was? Viele begreifen, dass das Staubkorn vom Himmel erschaffen wurde. Aber kaum jemand begreift, dass der Himmel vom Staubkorn erschaffen wurde.«
    T. nickte.
    »Sie haben da gerade eine sehr wichtige Sache gesagt«, erwiderte er. »Ich werde darüber nachdenken …«
    »Nur nicht stehenbleiben«, sagte Tschapajew. »Keine Aufmerksamkeit erregen.«
    Zwei Polizisten liefen vorüber, dann noch einer, mit einem Säbel in der Hand, und für wenige Augenblicke verstummte das Gespräch.
    »Sagen Sie«, fing T. wieder an, »dieser Dschambon, ist er ein echter wiedergeborener Lama?«
    »Wie soll ich Ihnen das erklären? Einerseits ist er so echt, wie es nur geht. Andererseits würde ich das nicht allzu ernst nehmen.«
    »Warum?«
    »Sehen Sie«, sagte Tschapajew, »er ist der Sohn eines reichen mongolischen Viehhändlers. Den Titel haben die Eltern ihm im Säuglingsalter gekauft, das ist in der Mongolei so etwas wie ein Grafentitel in Russland, das kann nie schaden … Pardon, ich wollte nicht …«
    »Ach, schon gut«, lachte T.
    »Sie haben den Titel nicht mit Geld gekauft, sondern gegen eine Schweineherde eingetauscht. Urgan Dschambon ist in Paris aufgewachsen. Er spricht weit besser Französisch als Mongolisch.«
    »Im Ernst?«
    »Oh ja«, erwiderte Tschapajew. »Deswegen hat er sich auch Dschambon als zweiten Namen ausgesucht, das klingt so ähnlich wie ›Schinken‹ auf Französisch und soll ihn an die Schweineherde erinnern und gleichzeitig an ein Frühstück auf dem Montmartre.«
    »Und der Buddhismus?«
    »Für den Buddhismus hat er sich erst in Petersburg interessiert. Anfangs hat er viel Umgang mit den Lamas gehabt, aber dann verlor er das Interesse an den tibetischen Schulen.«
    »Und woher bekommt er die Arznei?«
    »Welche Arznei?«
    »Ich glaube, sie heißt ›Shugdens Tränen‹.«
    Tschapajew fing an zu lachen.
    »Das wissen Sie also auch«, sagte er. »Ganz unter uns, er kauft die Zutaten bei holländischen Matrosen im Hafen und mischt sie selbst. Der Rest ist einfach Theater. Aber das Zeug wirkt, ich habe es selbst probiert … Wir sind ja schon auf dem Newski. Wohin müssen Sie?«
    »Zum Hotel d’Europe«, erwiderte T.
    »Dann gehen wir. Ich begleite Sie noch ein Stück.«
    »Erstaunlich«, bemerkte T. nach ein paar Schritten. »Solowjow hat zu allem irgendetwas gesagt …«
    »Das Bemerkenswerteste ist«, erwiderte Tschapajew, »er verstand es,

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