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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Sergejewitsch nicht wegen dieser Geschichte verhaftet?«, erkundigte sich der Journalist.
    »Nein«, antwortete die Dame mit der Kamelie. »Keineswegs. Er wurde aus politischen Gründen verhaftet. Beleidigung der Allerhöchsten Person … Obwohl es in Wirklichkeit keine Beleidigung gab.«
    »Erzählen Sie«, bat der Journalist.
    »Es gibt nichts Besonderes zu erzählen«, lächelte die Dame. »Das sind auch nur Gerüchte. Angeblich hat er mit dem Imperator geplaudert. Der habe gefragt, was die kosmische Bestimmung der russischen Zivilisation sei. Und Solowjow soll geantwortet haben: Das, Euer Majestät, ist die Umarbeitung von Sonnenenergie in das Elend des Volkes. Dafür wurde er dann eingesperrt. Der Imperator kennt sich natürlich selbst mit der Sonnenenergie aus, aber es waren Botschafter anwesend, und das Ganze stand dann in den ausländischen Zeitungen. Aber ich selbst habe sie nicht gelesen, gut möglich, dass das nicht stimmt.«
    »Ob es stimmt oder nicht«, sagte der nihilistische junge Mann, »aber es ist eine Tatsache, dass jede außergewöhnliche Persönlichkeit, die ihr Ziel in etwas anderem als Diebstahl sieht, von unserer Staatsmacht traditionell als Gefahr angesehen wird. Und je außergewöhnlicher eine solche Persönlichkeit ist, umso stärker fürchtet die Staatsmacht sie.«
    »Warum protestieren Sie nicht dagegen?«, fragte der Journalist.
    »Wie denn?« Die Dame mit der Kamelie breitete ratlos die Arme aus.
    »Ich habe zuverlässige Quellen bei der Polizei«, sagte der Journalist. »Ich weiß sicher, dass Solowjow morgen zum Allerhöchsten Verhör 79 gebracht wird. Der Gefängniswagen verlässt die Peter-und-Paul-Festung genau am Mittag. Warum machen Sie, das heißt wir nicht eine Protestkundgebung vor der Festung? Wir könnten die Kerkermeister an den Pranger stellen. Lassen Sie uns … ehem … Transparente und Flugblätter vorbereiten – alles, was man in solchen Fällen braucht. Ich meinerseits garantiere, dass Vertreter der liberalen Presse kommen. Wir könnten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die schändliche Willkür der Staatsmacht richten!«
    Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und ein kleines Mädchen kam in den Raum gelaufen – es war die Kleine, die auf der Straße Hüpfen gespielt hatte. Ihr Gesicht war vor Aufregung ganz bleich.
    »Polizei!«, sagte sie leise. »Polizisten und Agenten der Geheimpolizei in Zivil!«
    Die Gastgeber waren, wie sich zeigte, auf eine solche Entwicklung der Ereignisse gut vorbereitet. Die Dame mit der Kamelie nahm sofort Solowjows Porträt und die handgeschriebenen Zitate von der Wand, legte sie zusammen und versteckte sie, dann tätschelte sie dem Mädchen die Wange und sagte:
    »Keine Angst, Anjetschka. Es passiert schon nichts.«
    Unterdessen waren alle aufgesprungen und an der Tür gab es ein Gedränge.
    »Beruhigen Sie sich, meine Herrschaften!«, rief der Herr mit dem Walrossbart. »Ich bin ein Vertreter der Presse und man wird es nicht wagen …«
    Der junge Mann mit nihilistischem Aussehen, dem T. auf der Treppe begegnet war, trat zu T.
    »Folgen Sie mir, Graf«, sagte er. »Ich bringe Sie hinaus. Aber schnell, ich flehe Sie an.«
    »Sie kennen mich?«
    Der junge Mann lächelte.
    »Sollten wir nicht besser die Leute hier schützen?«, fragte T.
    »Glauben Sie mir, Sie schützen sie weit besser, wenn die Polizei sie nicht in Ihrer Gesellschaft antrifft. Dann gibt es weniger Fragen. Kommen Sie schon …«
    Er drehte sich um und ging zum Fenster. T. folgte ihm. Der junge Mann riss das Fenster auf und kletterte auf das Dach eines Anbaus.
    »Schneller!«
    T. lief hinter ihm her über das abschüssige Blechdach, sprang auf das benachbarte Dach und huschte geduckt bis zu dessen Rand, der in das Laub einer alten Pappel hineinragte.
    »Hier ist ein Ast«, sagte der junge Mann. »Damit kommen Sie zum Stamm und von dort nach unten. Machen Sie es wie ich.«
    Er sprang vom Dachrand, klammerte sich an den Ast, erreichte mit wenigen Bewegungen den Stamm und kletterte geschickt wie ein Affe auf die Erde hinunter. T. musste alle Kräfte aufbieten, um es ihm nachzutun und diese Übung ebenso elegant zu wiederholen.
    Sie befanden sich in einer stillen Seitenstraße. Die Passanten in der Ferne beachteten sie nicht weiter.
    »Jetzt gehen wir in Richtung Newski«, sagte der junge Nihilist. »Seien Sie nicht so angespannt. Am besten tun wir so, als würden wir uns unterhalten.«
    »Warum nur so tun?«, fragte T. und rang nach Luft. »Wir können uns doch

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