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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Übrigens, kein Zweifel – das Absolute hat eine Persönlichkeit.«
    »Und was ist die Persönlichkeit?«, fragte Tschapajew.
    »Das sind Sie«, versetzte T.
    »Ich?«
    »Oder das kleine Mädchen, das vor dem Haus Hüpfen gespielt hat. Anja heißt sie, glaube ich. Oder dieser Herr mit der gelben Krawatte.«
    Tschapajew blieb einen Augenblick stehen und öffnete den Mund, aber er hatte sich sofort wieder gefangen.
    »Wer weiß, wer weiß!«, bemerkte er, legte dann militärisch exakt zwei Finger an die Schläfe und stürzte unvermittelt quer über die Straße davon.
    T. wandte den Kopf. Zwei unauffällig gekleidete Herren lösten sich aus der flanierenden Menge auf dem Newski und setzten Tschapajew hastig nach; der eine kam dabei in der Mitte des Fahrdamms beinahe unter ein Pferd. Tschapajew war unterdessen schon nicht mehr zu sehen.
    Bald darauf betrat T. die vor Kristall und Nickel funkelnde Halle des Hotel d’Europe.
    »Wie bin ich bloß auf die Sache mit der Persönlichkeit des Absoluten gekommen?«, überlegte er, während er auf den Scheitel des sich nach dem Schlüssel bückenden Rezeptionisten blickte. »Offenbar durchfährt uns manchmal eine knappe, präzise Antwort für denjenigen, der sie wirklich braucht, während wir nicht einmal richtig verstehen, was wir sagen. Vielleicht hat dieser junge Kavallerist mir heute ebenso meine wichtigste Frage beantwortet und ich muss die Antwort nur noch richtig verstehen. Vielleicht aber gibt mir auch Solowjow selbst die Antwort. Morgen – falls ich dann noch lebe …«

XXIV
    Das Fuhrwerk mit der Ausrüstung, das in der Nacht aus Jasnaja Poljana eingetroffen war, machte auf der hauptstädtischen Straße einen erbärmlichen Eindruck.
    Plötzlich traten die zuvor unsichtbaren Spuren des ärmlichen Lebens auf dem Dorf und die auffallende Nähe zur abgeschiedenen Waldkindheit des Menschen deutlich hervor: Die Radfelgen starrten vor Dreck und Dung, die geborstenen Speichen waren notdürftig mit Bast geflickt, und die Heubüschel über den grauen Brettern sahen aus wie die Haarwirbel über der Stirn des gebrechlichen inneren Menschen, der seit ewigen Zeiten überlegt, wer ihn warum zwingt, dieses unbegreifliche Kreuz zu tragen, ohne je eine Antwort zu finden.
    »Dabei ist es genau umgekehrt«, dachte T., als er die lederne Reisetruhe (man hatte ihm aus irgendeinem Grund nur eine geschickt) vom Wagen hob. »Nicht der Bauernwagen ist armselig, sondern die städtische Straße ist künstlich und pompös. In einem Bauernwagen ist jedes Element sinnvoll und nützlich, jeder Holzklotz hat eine einfache, verständliche Bestimmung. Das ist sozusagen die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten – Notwendigkeit und Möglichkeit. Eine vielleicht holprig, aber unbeirrbar gezogene Linie. Und was ist die Stadt?«
    T. blieb am Hoteleingang stehen und überblickte die Straße.
    »Diese Atlanten aus Gips zum Beispiel, die zu dritt einen Zierbalkon stützen – rein symbolisch, es gibt nicht einmal eine Tür zu diesem Balkon. So ist alles in der Stadt: Schnickschnack, Schnörkel, Schminke und Puder auf der vermodernden Larve der Sünde. Das Schlimme ist natürlich nicht diese babylonische Kosmetik selbst, sondern die Tatsache, dass daneben alles Einfache und Echte dürftig und armselig wirkt. Aber wenn es keine Ausschweifungen gäbe, dann gäbe es auch keine Armseligkeit … Stopp, wer denkt das alles gerade in mir? Mitjenka vielleicht? Das sieht mir doch sehr nach seiner Kolumne aus. Oder ist da der Metaphysiker am Werk? Gut, ich schlafe nicht …«
    T. ging hinauf in sein Zimmer, stellte die Reisetruhe auf den Tisch und öffnete sie. Drinnen schimmerte dunkler Stahl. T. griff in die Truhe, um die beruhigende, zuverlässige Kühle zu spüren, und wollte die Waffe auf den Tisch legen.
    Irgendetwas stimmte nicht.
    T. runzelte die Stirn und musterte die Ausrüstung aufmerksam.
    Die Lackschatulle mit dem Damaszener Stahl für den Bart fehlte.
    Der Draht selbst fand sich allerdings, zu einem groben Bündel zusammengedreht, in der Innentasche. Aber er sah verkohlt und verbogen aus.
    Das war noch nicht alles: Von den Wurfmessern war nur knapp die Hälfte da und die Klingen waren dunkel vor Ruß. Das Kettenhemd fehlte und der Hut mit der Stahlscheibe ebenfalls. Dafür fand sich etwas Neues – eine Sense. Eine ganz gewöhnliche Bauernsense, abgeschabt und stellenweise rostig, die mit einem grauen Strick an einem kurzen Holzgriff festgebunden war und aussah wie eine Art Entersäbel.
    Auch die

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