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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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jedem etwas ganz Einfaches zu sagen, das aber die Welt völlig auf den Kopf stellte. Jedem. Hinterher konnten wir uns gar nicht erklären, wieso wir nicht selbst darauf gekommen waren. Aber diese Besonderheit von Solowjow kennen Sie vermutlich selbst zur Genüge …«
    T. spürte das Bedürfnis, das Thema zu wechseln.
    »Ist es übrigens wirklich wahr«, fragte er, »dass man ihn nur wegen dieses einen Satzes über das Elend des Volkes verhaftet hat?«
    »Das ist eine Anekdote.« Tschapajew winkte ab. »Mehr nicht. So viel ich weiß, war die Sache ganz anders. Er zeigte dem Imperator die Zukunft.«
    »Und dann?«
    Tschapajew grinste.
    »Angeblich sei der Imperator ganz blass geworden und habe gefragt: ›Haben Sie das sonst noch jemandem gezeigt?‹ Solowjow habe das verneint. Daraufhin sei er verhaftet und seither nie mehr gesehen worden. Aber ich weiß nicht, ob es wirklich so war.«
    »Gehen Sie morgen zu dieser … Protestkundgebung?«
    Tschapajew schüttelte den Kopf.
    »Das passt irgendwie nicht zu mir.«
    »Sind Sie beim Militär?«
    »Ja«, erwiderte Tschapajew. »Ich mache die Ausbildung zum Kavalleristen.«
    T. lächelte ungläubig.
    »Wirklich? Dann sind Sie der erste Kavallerist, dem ich je begegnet bin, den die Frage umtreibt, ob das Absolute eine Persönlichkeit hat.«
    Tschapajew seufzte.
    »Wissen Sie, Graf, ich kann nicht sagen, dass mich diese Frage tatsächlich umtreibt. Ich wollte mehr das Gespräch in Gang halten. Und was meinen Beruf angeht … Spüren Sie diesen kalten Wind im Gesicht? Irgendwie scheint mir, dass die Fertigkeiten, die ich jetzt erlerne, bald überlebensnotwendig sein werden. Und Revolutionslieder singen kann auch nicht schaden.«
    »Wofür das denn?«
    »Die Menschen im Allgemeinen und Polizisten im Besonderen fürchten stets am meisten das, was sie nicht verstehen. Daher ist die beste Maskierung die, sich als etwas auszugeben, was ihnen wohlbekannt ist. Das wissen Sie doch genauso gut wie ich. Ich habe nur gehört, dass Sie sich vorzugsweise als Gendarm verkleiden – aber das ändert ja nichts am Wesen …«
    »Wie schnell sich Gerüchte verbreiten«, brummte T. »Sagen Sie, Wassili, darf ich Sie etwas fragen? Ich wollte diese Frage eigentlich bei der Versammlung stellen, aber ich bin nicht mehr dazugekommen.«
    »Selbstverständlich, fragen Sie nur.«
    »Was ist Optina Pustyn?«
    Tschapajew fing an zu lachen.
    »Man merkt, dass Sie ein enger Freund von Wladimir Sergejewitsch sind – Sie stellen die Frage sogar mit der gleichen Intonation wie er. Allerdings weiß ich es nicht.«
    »Sie wissen es noch nicht?«, fragte T. nach.
    »Ich weiß es noch nicht oder ich weiß es nicht mehr.«
    »Aha«, versetzte T. »Sie wissen es also nicht …«
    »Allerdings. Ich leide auch nicht besonders darunter. Es gibt mittlerweile derartig viele von denen, die das wissen, dass man sie auf dem Basar in Kalkutta für vierzig Rupien das Paar kaufen kann. Ich habe eine Vermutung …«
    Tschapajew verstummte.
    »Was denn?«, fragte T. »Reden Sie schon.«
    »Wissen Sie, inwiefern sich Solowjows Linie von anderen Traditionen des geistreichen Nichtstuns radikal unterscheidet?«
    »Nein.«
    »Insofern, als man während des Prozesses allenthalben etwas erfährt«, sagte Tschapajew mit besonderer Betonung des Wortes »erfährt«. »Unter Solowjow-Anhängern ist es gang und gäbe, sich von etwas zu verabschieden, was man gestern noch ganz sicher wusste, ohne etwas im Gegenzug dafür zu erhalten. Etwas zu wissen, sagte Solowjow, ist ein tödlicher Zustand und die Krone jedes Wissens ist der Tod. ›Ich‹, ›Die Wahrheit‹, ›Der Weg‹ – alle diese Begriffe sind derart giftig, dass man sie jedes Mal aufs Neue in der Erde vergraben muss. Wo es kein Wissen gibt, gibt es auch keinen Tod. Ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass Optina Pustyn eben der Ort ist, an dem wir noch nicht wussten, dass wir nach Optina Pustyn gehen müssen … Das Interessanteste an dieser ewigen Reise ist aber, Graf, dass wir sie jede Sekunde neu ausführen …«
    Sie gingen schweigend bis zur nächsten Kreuzung. Dann sagte Tschapajew leise:
    »Hinter uns ist ein Spitzel. Sehen Sie sich nicht um.«
    »Was schlagen Sie vor?«, fragte T. »Erschießen wir den guten Mann?«
    Tschapajew winkte ab.
    »Das ist er nicht wert. Ich lenke ihn besser ab. Aber dann müssen wir uns jetzt verabschieden.«
    »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte T. »Vielleicht sehen wir uns einmal wieder …

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