Tolstois Albtraum - Roman
Versuchung zu widerstehen. Aber Sie schaffen es, da bin ich sicher, weil …«
Da klopfte es an der Tür und sofort erlosch Solowjows Silhouette – als hätte man die verborgene Lichtquelle, die ihn sichtbar werden ließ, ausgeschaltet.
Und dann erwachte T.
XXVI
Tolstoi schlug die Augen auf und hob den Kopf.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass er am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer saß. Auf dem grünen Filz vor ihm lag ein Stapel beschriebenen Papiers; die Feder war ihm aus der Hand geglitten und hatte auf dem einen Blatt einen länglichen, halbrunden Klecks hinterlassen, der irgendwie mit dem Traum zu tun zu haben schien, aus dem er gerade erwacht war. Außerdem lag ein weißer Glacéhandschuh auf dem Tisch, der ebenfalls einen Bezug zu dem Traum hatte, und zwar einen sehr wichtigen.
Tolstoi blickte aus dem Fenster. Es war ein Sommerabend – Blumenbeete, der sich bis zum Teich hinunter erstreckende Garten, in die Erde gerammte Pfähle mit Seilen für das Ringlaufspiel. Um einen solchen Pfahl herum rannte mit geblähten Wangen ein kurzgeschorener Knirps in einem langen grauen Hemd.
Tolstoi senkte den Blick. Auf dem Fensterbrett lagen Schusterwerkzeuge. Unter dem Fenster stand eine Holzkiste mit Schusterleisten und Lederabschnitten. Alles sah aus wie immer.
Er runzelte kurz die Stirn und dann fiel es ihm wieder ein.
»Ich habe geträumt, ich schreibe einen Roman … Ja, so war es. Einen völlig verrückten Roman, die Hauptfigur war der tote Dostojewski. Und ich selbst … Ein sehr ausführlicher, merkwürdiger Traum, beinahe ein ganzes Leben, fantastisch und komisch … Stopp. Aber habe wirklich ich den Roman geschrieben? Nein, mir scheint, ich selbst war der Roman, der geschrieben wurde … Oder es war sowohl das eine wie das andere …«
Wieder wurde an die Tür geklopft.
»Lew Nikolajewitsch«, rief die Stimme des Lakaien aus dem Flur. »Es sind schon alle bei Tisch. Belieben Sie zu kommen?«
»Ja, ich komme«, rief Tolstoi. »Sag, sie sollen mich entschuldigen und ohne mich anfangen. Ich komme in zehn Minuten, ich will nur noch meinen Tee austrinken.«
Als die Schritte im Korridor verklungen waren, ließ Tolstoi den Kopf in die Hand sinken und nahm dieselbe Haltung ein, in der ihn der Schlaf übermannt hatte – er wusste, dass man sich auf diese Art vergessene Einzelheiten aus einem Traum ins Gedächtnis rufen konnte. Nachdem er ein Weilchen völlig reglos gesessen hatte, nahm er die Feder, tunkte sie in das Tintenfass und schrieb:
»Knopf (?). Der Zigeuner mit der Puppe. Solowjow und Olsufjew. Die Fürstin Tarakanowa. Der Prosektor Brahman (?). Konfuzius. Das Wichtigste, nicht vergessen – Opt. Pustyn.«
Er hob die Hände, nahm mit zwei Fingern den Anhänger auf seiner Brust und hielt ihn sich vor die Augen.
Es war ein winziges goldenes Buch, zur Hälfte verborgen in einer aus weißem Jaspis geschnitzten Blume – das Ganze sah aus wie eine kleine Glocke mit einem überproportional großen Klöppel. Das Buch hing an einem goldenen Kettchen. Es war eine sehr alte Arbeit und auch wenn sie auf den ersten Blick robust wirkte, trug sie zahlreiche Spuren der Zeit – Kratzer, Risse und Flecken. Tolstoi lächelte und schüttelte ungläubig den Kopf.
Er stand auf und ging in den von seinem Schreibtisch durch Bücherschränke abgeteilten Bereich, der ihm als Empfangszimmer diente. Dort lagen auf dem runden Tisch zwischen der Glastür, die in den Garten führte, und dem mit grünem Wachstuch bespannten Diwan etwa ein halbes Dutzend Bücher in deutscher, englischer und französischer Sprache.
Ein gedämpfter Schrei drang aus dem Garten. Tolstoi blickte durch die Glastür hinaus. Der kleine Junge, der am Seil um den Pfahl herumgerannt war, hatte das Gleichgewicht verloren und war ins Gras gefallen. Tolstoi schmunzelte, ging zum Waschtisch und wusch sich das Gesicht.
Als er das Speisezimmer betrat, verstummte das Gespräch am Tisch und zwei der Anwesenden – der Übersetzer aus dem Gefolge des indischen Gastes und der Spezialist für den Phonographen 87 – wollten aufstehen, aber man hielt sie zurück. Der indische Gast selbst, ein hochgewachsener, hagerer alter Mann in einem orangefarbenen Mantel und mit einer hölzernen Gebetskette um den Hals, lächelte über das ganze Gesicht. Tolstoi murmelte eine freundliche Begrüßung, nickte in die Runde und setzte sich auf seinen Platz.
»Zum Teufel«, dachte er, »ich habe schon wieder vergessen, wie er heißt … Swami … ananda. Aber
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