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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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aufgehängt ist, sondern die Inschriften, die die Gefängnisverwaltung hier angebracht hat. Lassen Sie uns für einen Moment annehmen, dass sie echt sind. Lesen Sie irgendeine.«
    T. stand auf und ging zur Wand.
    »Es ist ein bisschen dunkel«, murmelte er. »Aber man kann es lesen. Also: ›Hier schreibt Gottes Sklave Fedka Pjatak aus Moskau. Ich hab drei Soldaten wegen Stiefel abgestochen, morgen früh hängen sie mich auf. Herr nimm meine Seele auf …‹«
    »Was fällt Ihnen dabei auf?«
    »Erstens«, sagte T., »verstehe ich nicht, wie Fedka es geschafft haben soll, gleich drei Soldaten wegen ihrer Stiefel abzustechen. Entweder hat er sie im Schlaf erstochen, weil er Absichten auf drei Paar Stiefel hatte, oder er hat bloß jemandem die Stiefel abgezogen und ist zum Mörder geworden, als er die Verfolger abwehren wollte … Er hat das sehr schnell hingekritzelt. Offenbar war er aufgeregt.«
    »Sonst noch was?«
    »Zweitens ist es unklar, was genau der Herr mit dieser Seele macht, wenn er sie annimmt. Waschen, bügeln?«
    »Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«
    T. überlegte.
    »Nun ja, man kann sich noch darüber Gedanken machen, warum er ausgerechnet Fedka Pjatak 85 heißt. Vielleicht hat er für einen Fünfer irgendwelche niedrigen Arbeiten verrichtet, zum Beispiel Kringel und Wodka gebracht oder junge Katzen ersäuft. Er schreibt, er ist aus Moskau – in den Elendsvierteln rund um den Chitrowski-Markt gibt es tatsächlich verkrachte Existenzen, die zu so was fähig wären. Vielleicht sah er auch aus wie ein Ferkel. 86 Ich kann ihn mir übrigens gut vorstellen – eine löchrige braune Schirmmütze auf dem Kopf, verschlagene Äuglein, die unruhig hin- und herhuschen, und eine Stumpfnase, ein Schweinerüssel mit großen Nasenlöchern … Und er ist ziemlich klein.«
    »So«, bemerkte Solowjow. »Gleich haben wir es. Als stünde er leibhaftig vor uns. Sie haben ihn jetzt gerade in Ihrer Fantasie gesehen, ja?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Sehr schön. Jetzt stellen Sie sich vor, dass Fedka Pjataks Notiz ein kurzer Roman ist. Und Fedka Pjatak selbst ist der Held dieses Romans. Wer sind dann Sie in Bezug auf diesen Roman?«
    »Der Leser.«
    »Ganz genau. Gerade eben waren Sie selbst der Leser. Aber Sie wissen, dass Sie im Bewusstsein des Lesers auftauchen, nicht wahr? Das, was Sie für Ihr Bewusstsein halten, ist in Wirklichkeit das Bewusstsein des Lesers. Nicht Sie haben gerade von Fedka Pjatak gelesen. Es war der Leser, in dessen Fantasie auch wir beide auftauchen, der Fedkas löchrige braune Schirmmütze gesehen hat und seinen Schweinerüssel. Er hat das durch Sie gesehen.«
    »Angenommen, das stimmt. Was bedeutet das?«
    Solowjow machte eine Pause.
    »Das bedeutet«, sagte er dann leise, »dass der Leser, der jetzt gerade dieses Buch liest, genau so ein durchsichtiges Phantom ist wie wir beide. In der wirklichen Realität gibt es ihn nicht. Er ist genau so eine Zwischenabbildung, wie Sie selbst bei der Lektüre von Fedkas Geschichte eine waren.«
    »Aber wen gibt es dann?«
    »Nur das Unergründliche, das Sie durch den Leser sieht – genauso, wie der Leser gerade eben Fedka Pjatak durch Sie gesehen hat, Graf.«
    T. schwieg.
    »Es gibt nur einen einzigen Leser im Universum«, fuhr Solowjow fort. »Aber er kann beliebig viele farbige Brillen auf der Nase haben. Indem sie sich ineinander spiegeln, erzeugen sie weiß der Teufel was für Reflexe – Weltkriege, Finanzkrisen, weltweite Katastrophen und anderes mehr. Doch es gibt nur einen einzigen Blick, der durch all das hindurchgeht, nur einen einzigen Strahl klaren, bewussten Lichts – und zwar den, der in dieser Sekunde durch Sie und mich und jeden, der uns beide sieht, hindurchgeht. Weil es überhaupt in diesem ganzen Weltall nur einen einzigen, in all seinen zahllosen Erscheinungsformen sozusagen selbstidentischen Strahl gibt. Ihn als Strahl zu bezeichnen ist übrigens ein großer Fehler. Wenn auch kein größerer Fehler, als ihn als Loch im Abtritt zu bezeichnen, wie Linji.«
    »Wer erschafft denn das, was dieser Blick sieht?«
    »Das, was er sieht, ist nicht von jemand anderem erschaffen. Er erschafft das, was er sieht, selbst.«
    »Und wodurch?«
    »Dadurch, dass er es sieht.«
    »Schön«, sagte T. »Dann stelle ich die Frage anders. Wer sieht durch diesen Blick?«
    »Sie.«
    »Ich?«
    »Natürlich. Sie sind dieser Blick, Graf. Sie sind dieses Unergründliche.«
    »Sie wollen also sagen, ich bin der Schöpfer der Welt?«
    Solowjow breitete die Arme aus, als

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