Tolstois Albtraum - Roman
gefaltetes Blatt Papier auf den Tisch.
»Dieser Brief hat Sie nie erreicht«, sagte er. »Aber jetzt können Sie ihn lesen.«
T. nahm das Papier und faltete es auseinander. Das Blatt war mit einer ordentlichen, flüssigen Handschrift beschrieben:
Hotel d’Europe, an Graf T.
Graf,
Sie erkundigten sich vor der Versammlung nach dem »Imperator, der den Gedanken freilässt« (wenn Sie sich noch daran erinnern), indes die Umstände erlaubten damals keine Antwort meinerseits. Ich versuche, diese nun in meinem Brief zu geben.
Die Worte sind mit einer alten Geschichte verbunden: Einmal sagte Solowjow im Gespräch mit Dschambon, die vier erhabenen Wahrheiten des Buddhismus müssten in der Auslegung für den modernen Menschen anders klingen als vor zweitausend Jahren. Sie stritten und lachten und schrieben dann zusammen die folgende Version:
1) Leben ist Unruhe.
2) Grundlage der Unruhe ist der Gedanke.
3) Den Gedanken kann man nicht zu Ende denken,
man kann ihn nur freilassen.
4) Um den Gedanken freizulassen, bedarf es des Imperators. 89
Zu Anfang wollten sie die vierte erhabene Wahrheit anders formulieren – »Um den Gedanken freizulassen, finde denjenigen, der denkt«. Allerdings ist, wie Dschambon bemerkte, der moderne Geist so geübt, dass er nicht selten fortfährt zu denken, selbst wenn er begriffen hat, dass es ihn nicht gibt.
Sie fragen, wer dieser »Imperator« ist? Ganz einfach – derjenige, der den Gedanken bemerkt, lässt ihn frei und verschwindet zusammen mit ihm. Dieses Verfahren bezeichnet man als »Schlag des Imperators«, und ich denke, er wird ganz bestimmt einen Platz in Ihrem Arsenal des gewaltlosen Widerstands finden. Der Schlag wird nicht nur dem Gedanken zugefügt, sondern auch dem Imperator selbst, der mit dem Gedanken zusammen untergeht: Im Grunde geht er, ohne angekommen zu sein, weil die Sache schon getan ist.
Man könnte sagen, dass der »Imperator« eine Erscheinungsform der aktiven Hypostase Des Lesers oder, wenn Sie so wollen, Des Autors ist. Doch der Unterschied zwischen Leser und Autor existiert nur so lange, wie der Gedanke noch nicht freigelassen ist, weil Der Leser ebenso wie Der Autor nur Ideen sind. Als ich Solowjow fragte, was denn bliebe, wenn es weder Gedanke noch Imperator gäbe, antwortete er einfach: »Du und deine Freiheit.«
Hier könnte die Frage aufkommen, was Solowjow eigentlich mit dem Wort »du« gemeint hat. Der Autor, Du und Der Leser – das war seine Auffassung der Dreieinigkeit. Zwischen diesen drei Begriffen gibt es scheinbar einen Unterschied. Doch in Wirklichkeit verweisen sie auf ein und dasselbe, und außer diesem gibt es überhaupt gar nichts.
Möglicherweise bringt Sie mein verworrener Brief auf irgendwelche Ideen. Nun wissen Sie jedenfalls, was Sie damit machen müssen … smile …
Ihre T . S.
PS : Anjetschka lässt den »grimmigen Onkel mit dem Bart« grüßen.
»Ich könnte nicht behaupten, dass wir diesen verschlüsselten Brief ganz verstehen«, sagte Kudassow. »Aber das Wesentliche liegt doch auf der Hand. Es geht um ein Verbrechen gegen Allerhöchste Personen. Wann und wo hatten Sie vor, den Schlag gegen den Imperator auszuführen?«
T. zuckte die Achseln.
»Gleichzeitig mit dem Freilassen des Gedankens. Das geht doch aus dem Brief hervor. Sie haben wohl schon mit der Absenderin gesprochen?«
»Sie ist aus Petersburg verschwunden.«
»So etwas, wie ärgerlich …«
Kudassow grinste.
»Von Ihnen etwas in Erfahrung bringen zu wollen hat keinen Zweck, das ist klar«, bemerkte er. »Doch wenn es um die Sicherheit der Ersten Personen des Imperiums geht, verfolgen wir eine andere Taktik – wir klären nicht alle Details und Einzelheiten, sondern führen den Schlag selbst aus. Gegen alles, was wir zu packen kriegen. Sie werden weder dem Imperator noch dem Gedanken einen Schaden zufügen.«
»Wollen Sie mit mir verfahren wie mit Solowjow?«
»Es gibt keinen anderen Ausweg.« Kudassow breitete die Arme aus. »Sie am Leben zu lassen ist hochgefährlich. Sie verdienen zweifellos, von einem Gericht zum Tode verurteilt zu werden. Doch die höchste Macht will es nicht an die große Glocke hängen, weil das zu einer noch größeren Entfremdung zwischen der herrschenden Schicht und dem Volk führen würde. Für die Leute werden Sie einfach verschwunden sein, Graf. Nur werden Sie dieses Mal nicht in Kowrow oder andernorts in der Uniform eines erwürgten Gendarmen auftauchen.«
T. wollte den Mund öffnen, aber Kudassow machte eine flüchtige
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