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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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lächelte.
    »So lehrt es die Kirche«, sagte er.
    »Ja, ja, die Kirche«, wiederholte die Puppe. »Angeblich widersteht die Kirche dem Fürsten dieser Welt. Ist das nicht Unsinn? Stellen Sie sich vor, in einem judenfeindlichen Stadtbezirk setzt irgendein armer Jude dem Bezirksaufseher eine Schenke vor die Nase und schreibt auf das Aushängeschild: ›Ich widerstehe dem Bezirksaufseher.‹ Meinen Sie, das geht lange gut?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Das glaube ich auch nicht. Aber wenn nun dieses Etablissement jahrein, jahraus einwandfrei arbeitet und gute Gewinne abwirft, dann heißt das augenscheinlich, dass da mit dem Bezirksaufseher gemeinsame Sache gemacht wird.«
    »Entschuldigen Sie«, sagte T., »es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen einem Bezirksaufseher und dem Fürsten dieser Welt.«
    »Das glaube ich auch«, stimmte die Puppe zu. »Der Fürst dieser Welt ist ungleich mächtiger und klüger. Und wenn er in seinem Revier Etablissements zulässt, die dem Revieraufseher offiziell und feierlich widerstehen, dann geschieht das, so muss man annehmen, nicht ohne besonderen Grund …«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Vorläufig gar nichts, Graf«, feixte die Puppe. »Ich teile Ihnen meine Beobachtungen mit. Mir passt nur der Ausdruck ›gefallener Engel‹ nicht. Wenn Sie wollen, betrachten Sie mich als Sturzkampf-Engel.«
    »Was heißt denn Sturzkampf – sind Sie im Kampf gestürzt?«
    »Nein. Sturzkampf-Engel hoffen im Fallen immer noch, wieder aufzusteigen. Sie sind noch nicht richtig unten, wenn auch kurz davor, ha-ha …«
    »Die Kirche sagt über Sie aber nichts.«
    »Wir sagen auch nichts über die Kirche«, erwiderte die Puppe. »Unsere Position in Bezug auf diese Frage ist noch unklar. Aber während Sie sich Optina Pustyn nähern, wird sich alles entscheiden. Wenn alles so läuft wie geplant, erwartet Sie eine ergreifende Rückkehr in den Schoß der Kirche. Doch wir wollen den Ereignissen nicht vorgreifen …«
    »Rätsel über Rätsel«, sagte T. »Antworten Sie mir klar und ohne Umschweife: Wer sind Sie in Wirklichkeit?«
    Die gemalten Puppenaugen blinzelten und starrten T. kühl an.
    »Und wer sind Sie? Was wissen Sie über sich?«
    T. zuckte mit den Schultern.
    »Nicht mehr viel. Ich hatte eine Gehirnerschütterung. Aber auch wenn ich mein Gedächtnis verloren habe – vorübergehend, hoffe ich –, bleibe ich dennoch ich selbst.«
    »Denken Sie an etwas Konkretes über sich. Egal was.«
    »Zum Beispiel … zum Beispiel …« T. runzelte die Stirn und brach in ein nervöses Lachen aus. »So kann man jeden in Verlegenheit bringen. Sagen Sie jemandem, er soll sich an etwas aus seinem Leben erinnern, und er kommt aus dem Konzept.«
    »Aber Sie erinnern sich doch einfach an gar nichts, nicht wahr?«
    »Wieso, irgendwas fällt mir schon ein. Jasnaja Poljana zum Beispiel. Die Gartenlauben, die Furchen, die der Pflug zieht … Oder Frou-Frou … So heißt das Pferd …«
    T. kam es so vor, als würde die Puppe den Mund zu einem hölzernen Lachen auseinanderziehen, obwohl die Konstruktion des Mundes das gar nicht zuließ.
    »Jetzt fange ich schon an, mir etwas für Sie auszudenken. Ich kann mich kaum zurückhalten.«
    »Hören Sie, Ariel«, sagte T., »Sie können sich, wenn ich das richtig verstehe, in jeder beliebigen Gestalt zeigen. Warum sind Sie ausgerechnet eine Puppe?«
    »Das ist eine Anspielung.«
    »Worauf?«
    »Sie fragen ständig, wer ich bin. Aber Sie haben kein einziges Mal gefragt, wer Sie sind. Also muss ich ein Spiegel für Sie sein.«
    »Sie wollen sagen …«, T. verspürte eine unangenehme Kälte in der Magengrube, »dass ich eine Puppe bin? Ihre Marionette, Ihr Spielzeug? Das nur dann lebendig ist, wenn der Marionettenspieler die Fäden zieht?«
    Die Puppe kicherte niederträchtig.
    »Fast richtig. Aber die Fäden sind abgeschnitten, wie Sie sehen, und die Marionette agiert wie von selbst. Überlegen Sie mal, was macht sie? Sie kämpft, sie schießt, sie unterhält sich mit Leuten, denen sie begegnet, sie flieht vor einem gewissen Knopf. Aber sie weiß nichts über sich selbst und auch nichts über diesen Knopf. Sie tut immer so, als bewege sie sich auf ein bekanntes Ziel zu, aber kaum denkt sie darüber nach, begreift sie entsetzt – sie kennt das Ziel nicht …«
    »Warum hören Sie nicht einfach auf mit diesem faulen Zauber?«, fragte T. und ballte die Fäuste. »Zeigen Sie sich in Ihrer wahren Gestalt. Können Sie das überhaupt?«
    »Ja«, sagte die Puppe nach kurzem

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