Tolstois Albtraum - Roman
folgt immer die Verachtung gegenüber dem fremden …«
»Hast du dich nach Optina Pustyn erkundigt?«, fragte der Alte.
»Ja«, bestätigte T.
Der Alte und der Riese wechselten einen vielsagenden Blick.
»Ich glaube, er ist der, den wir erwarten«, sagte der Riese. »Wenn der Oberst die Wahrheit gesagt hat, kaufe ich neue Stiefel.«
»Reiß dich zusammen, Lojko«, seufzte der Alte.
Er wandte sich zu T. und zeigte ihm eine billige Sanduhr, wie man sie im Naturkundesaal eines Gymnasiums finden kann.
»Du musst beweisen, dass du eine Antwort auf deine Frage verdienst, Bart.«
»Und wie?«
»Du musst mit Lojko kämpfen und ihm wenigstens zwei Minuten standhalten. Wenn du am Leben bleibst, erfährst du alles, was du willst.«
»Meine Herren«, sagte T., »hier liegt ein Missverständnis vor. Sie haben nicht einmal gefragt, wer ich bin.«
»Wir haben dich nicht gefragt, wer du bist«, versetzte der Alte, »weil das bei uns nicht Brauch ist. Wir sind Zigeuner. Aber jeder, der darüber spricht, worüber du gesprochen hast, muss mit Lojko kämpfen. Und wenn du derjenige bist, den wir erwarten, ist es einfach deine Pflicht zu kämpfen.«
Er drehte die Uhr um, stellte sie auf die Erde und verkündete:
»Es ist Zeit!«
»Moment mal«, sagte T., »wen erwarten Sie denn eigentlich?«
Der Riese, der schon seine Hand nach T. ausgestreckt hatte, erstarrte.
»Ein Oberst der Gendarmerie war bei unserem Baron«, antwortete der Alte. »Er sagte, heute werde möglicherweise ein nackter Mann mit schwarzem Bart aus dem Fluss steigen, und auf diesen Mann, tot oder lebendig, sei eine Belohnung ausgesetzt. Wir wollen keine Belohnung für einen Lebenden – wir sind Zigeuner, das wäre eine Schande für uns. Aber es ist keine Schande, die Belohnung für einen Toten zu kassieren, das ist nichts anderes, als einen Pferdebalg zu verkaufen. Deshalb musst du mit Lojko kämpfen, und Gott möge dir beistehen, dass du ihm standhältst.«
»Und was genau meinen Sie mit standhalten ?«
»Während der Sand in der Uhr durchläuft, darfst du kein einziges Mal mit dem Rücken den Boden berühren. Das ist nicht so lange, weniger als zwei Minuten. Dann glauben wir dir, dass du der bist, für den du dich ausgibst.«
»Ich gebe mich für niemanden aus«, sagte T.
Der Alte und der Riese wechselten einen Blick.
»Stimmt«, sagte der Alte. »Dann musst du eben beweisen, dass du der bist, für den wir dich halten.«
»Und für wen halten Sie mich?«
»Für den, den unser Baron erwartet«, antwortete der Riese Lojko. »Wir haben es dir doch schon erklärt. Ein Oberst der Gendarmerie hat dem Baron mitgeteilt, es wird vielleicht ein nackter Mann mit Bart auftauchen.«
T. kratzte sich am Hinterkopf, als versuche er, etwas zu verstehen, das zu kompliziert für ihn war.
»Aber wozu muss ich beweisen, dass ich ein nackter Mann mit Bart bin, wenn das doch ganz offensichtlich ist?«
Die Zigeuner am Lagerfeuer waren schon lange verstummt und lauschten der Unterredung gespannt. In der Miene des Riesen spiegelte sich Nachdenklichkeit. Auch der Alte überlegte hin und her, wobei er mit den Fingern über den schweren silbernen Halbmond an seinem langgezogenen Ohrläppchen strich. Schließlich sagte er:
»Ein nackter Mann mit Bart kann derjenige sein oder auch nicht. Es gibt viele nackte Männer mit Bart, aber die Belohnung bekommt man nur für den einen.«
»Genau«, stimmte Lojko zu.
»Ich bin gar nicht mehr sicher«, fuhr der Alte fort, »dass du wirklich dieser nackte Mann mit Bart bist, von dem der Oberst gesprochen hat. Dafür redest du zu viel. Aber trotzdem musst du den Test machen.«
»Und wenn ich ihn bestehe?«, fragte T.
»Dann bringen wir dich zum Baron.«
»Na schön«, erwiderte T. »Meinetwegen, ich bin bereit. Sagen Sie mir noch, welche Methoden ich anwenden darf?«
Lojko lachte geringschätzig.
»Alle, die du kennst.«
»Also ganz egal, welche?«
Lojko nickte.
»Haben das alle gehört?«, fragte T. und drehte sich zu den am Lagerfeuer Sitzenden um.
»Ja«, bekräftigte Lojko, beugte sich zu Boden und streckte seine Hände aus, die aussahen wie zwei Holzscheite. »Alle haben es gehört. Du brauchst keine Angst haben, mir wehzutun …«
Er machte einen Schritt auf T. zu.
»Na, dann«, sagte T., »habe ich Ihren Test schon bestanden.«
»Warum?«, fragte der Alte.
T. deutete auf den im Gras blinkenden Glaskolben.
»Der Sand ist schon ganz durchgelaufen. Wollen Sie das freundlicherweise nachprüfen? Und ich habe kein
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