Tolstois Albtraum - Roman
Vierte war tot.
Knopf hob die Augen. An einer Lichtung zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Schlucht tauchte ein Reiter auf – der schwarzbärtige Offizier. Er zügelte sein Pferd, das ungeduldig mit den Hufen stampfte. Knopf griff nach seiner Waffe, sah aber im selben Moment den auf ihn gerichteten Revolver in T.s Hand.
»Sie denken doch wohl nicht an einen Mord«, sagte T. verächtlich, »während Ihre Kameraden leiden? Immerhin brauchen sie Hilfe …«
»Lesen Sie mir nicht die Leviten, Graf«, sagte Knopf. »Wenn jemand schuld ist an den Qualen der Leute, dann sind Sie das!«
»Sie lügen«, versetzte T. »Ich habe sie nicht einmal angerührt.«
Knopf lachte geringschätzig.
»Das ist es ja! Sie sind schlimmer als ein Mörder – der übernimmt wenigstens die Verantwortung für das, was er getan hat. Aber Sie … Sie sind zu feige, selbst zu töten, und zwingen Ihre Opfer, gewissermaßen aus freien Stücken zu sterben. Ihre Arme sind blutbesudelt bis zum Ellbogen, aber Sie meinen, sie seien sauber, weil Sie Handschuhe tragen.«
T. zuckte die Achseln.
»Reden Sie keinen Unsinn, Knopf. Ich habe schließlich niemanden gezwungen, in die Schlucht zu springen. Mehr noch, ich wäre glücklich, wenn sich diese Herrschaften einen anderen Zeitvertreib ausgesucht hätten, als mich zu jagen wie einen Hasen und hinterrücks auf mich zu schießen. Warum verfolgen Sie mich?«
»Ihre Heuchelei kennt einfach keine Grenzen! Als ob Sie das nicht wüssten!«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wollen Sie etwa abstreiten, dass Sie versuchen, nach Optina Pustyn zu gelangen?«
»Durchaus nicht«, erwiderte T. »Obwohl …«
Eigentlich hatte er sagen wollen: »Obwohl ich neulich im Zug von Ihnen zum ersten Mal davon gehört habe«, aber er wusste, mit welchem Sarkasmus Knopf darauf reagieren würde.
»Was – obwohl?«, fragte Knopf.
»Ach nichts. Meines Erachtens ist das noch lange kein Grund, jemandem eine Mörderbande hinterherzuschicken und ihn als Heuchler zu bezeichnen, wenn er versucht, am Leben zu bleiben …«
T. blickte in die Schlucht und riss sein Pferd auf die Hinterbeine hoch. Im selben Moment knallten von unten zwei Schüsse. Beide Kugeln bohrten sich dem Pferd in den Bauch. T. glitt vom Rücken des Pferdes hinunter auf den Boden, und das jämmerlich wiehernde Tier stürzte direkt auf den Schützen, dem es gelungen war, bis unmittelbar an den Rand der Schlucht hochzuklettern. Die beiden Körper – der Mensch und das Pferd – rollten in die Schlucht hinab; der Schütze wurde von dem toten Tier erdrückt und starb mit einem flüchtigen, dumpfen Ächzen.
Kaum war T. wieder auf den Beinen, nahm er Knopf ins Visier.
»Sie und Ihre Gehilfen sind widerlich, mein Herr«, sagte er zu dem Detektiv. »Sehen Sie sich vor, stellen Sie meine Prinzipien nicht auf die Probe. Sonst könnte ich Ihnen eines schönen Tages den Hals umdrehen.«
»Ich nehme an«, erwiderte Knopf hämisch, »dass ich das nahende Ende an dem mitfühlenden Schrei ›Achtung!‹ erkennen werde.«
T. gab keine Antwort, er ließ Knopf nicht aus den Augen und schritt mit vorgehaltener Waffe vom Rand der Schlucht rückwärts. Als die Silhouette des Detektivs durch das Laub nicht mehr zu sehen war, drehte er sich um und ging in den Wald.
Wie immer, wenn er einer Gefahr entronnen war, waren alle seine Sinne geschärft. Gierig nahm er die Klänge und die Farben der Welt in sich auf: das Schlagen der allgegenwärtigen Nachtigallen, die gebetsähnliche Klage des Kuckucks, die unbeschreiblichen Farben des Sommerabends. Es duftete nach abendlicher Kühle und fernem Rauch. Allmählich senkten sich Ruhe und eine beinahe andächtige Ergriffenheit in seine Seele.
»Wer auch immer der Schöpfer ist«, dachte T., »man hat sich ihm zu unterwerfen … Man sollte nicht hochmütig sein und sich selbst für klüger halten als die Myriaden von Menschen, die schon auf der Erde gelebt haben. Aber wie soll man ihn ansprechen? Ganz nach Belieben. Zum Beispiel so: Ariel, du lichter Engel, der mich und die Welt erschuf … Ich möchte glauben, dass er ein lichter Engel ist … Zeige mir den Weg und gib mir ein Zeichen! Wenn ich zu dir komme, so heißt das, dass nicht ich dich sehen will, sondern dass du selbst in mir wünschst, dass ich dich finde. Daher wirst du mir sicher entgegenkommen …«
Doch auch wenn seine Gedanken einem andächtigen Gebet glichen, blieb dieses ohne Antwort.
Je weiter T. in das Dickicht vordrang, desto dunkler und unwegsamer wurde
Weitere Kostenlose Bücher