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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Nachdenken. »Aber Sie werden enttäuscht sein.«
    »Bitte, tun Sie mir den Gefallen.«
    »Heute ist dazu keine Zeit mehr.«
    »Dann beim nächsten Mal. Versprechen Sie es!«
    »Also gut«, seufzte die Puppe und blickte zur Seite. »Meinetwegen. Aber jetzt müssen Sie sich ausruhen, Graf. Morgen werden Sie fast den ganzen Tag im Sattel sitzen. Sammeln Sie Ihre Kräfte und grübeln Sie nicht zu viel – bald erfahren Sie ohnehin alles. Gute Nacht.«
    T. kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben – die Arme der Puppe, die gerade eben noch so anmutig gestikuliert hatten, baumelten plötzlich kraftlos herab, und das Rechteck des Mundes war nach unten gesackt. Die Puppe war nur noch ein dunkles, totes Stück Holz mit aufgemalten Augenpunkten. T. betrachtete sie, bis der Zigeunerbaron aus der Dunkelheit auftauchte.
    Er trug zwei zusammengerollte Decken auf dem Arm.
    »Bereiten Sie sich ein Nachtlager«, sagte er. »Morgen früh bekommen Sie die Sachen, das Orakel hat uns aufgetragen, sie Ihnen zu geben.«
    »Was für Sachen?«
    »Die Uniform des Gendarmen«, erwiderte der Baron. »Seine Waffe, seinen Geldbeutel und das Pferd. Ein schönes Pferd … Ich muss aufpassen, dass ich Ihnen heute Nacht nicht den Hals durchschneide.«
    »Woher haben Sie seine Uniform? Und sein Pferd?«
    »Das hat Lojko sich erkämpft. Keine Sorge, Graf, es ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Den Toten haben wir in den Fluss geworfen und den Plunder wollte ich eigentlich aufbewahren, aber das ist mir zu heiß, der bringt das ganze Lager in Gefahr. Außerdem brauchen freie Menschen keine Stiefel mit Sporen. Aber Ihnen kommen sie vielleicht zustatten. Wenn Sie losreiten, wird sich schon etwas ergeben. Vielleicht finden Sie sogar Ihr Optina Pustyn …«

VI
    Das Pferd, ein weißer Passgänger, war wirklich vorzüglich, wenn auch etwas zu feurig. Anfangs versuchte es, T. abzuwerfen, doch als es die erfahrene Hand spürte, unterwarf es sich dem menschlichen Willen.
    »Ich frage mich«, überlegte T., als er über die verlassene morgendliche Landstraße preschte, vorbei an grauen Katen und kleinen Kramläden, »wie ein Pferd den Unterschied zwischen einem geschickten Reiter und einem Neuling empfindet? Wie eine Last, die mal mühelos und mal beschwerlich zu tragen ist? Aber eine Last ist umso einfacher zu tragen, je leichter sie ist … Und wenn das Gewicht dasselbe ist? Vermutlich registriert ein Pferd nur den Wechsel der eigenen Stimmung. Im einen Fall reagiert es nervös, im anderen Fall fühlt es sich sicher und ruhig. Und es hat natürlich keine Ahnung, warum – es ist einfach so, das ist alles …«
    Seltsamerweise war T. durch das nächtliche Gespräch keineswegs beunruhigt. Er dachte nur einmal an Ariel, kurz nach Mittag, als ihn die hellen Weiden entlang der Landstraße an eine Prozession von Riesen erinnerten, die gemächlich von einer Ewigkeit zur anderen trotteten und ihre vielen zarten silbrigen Arme schwenkten, die aussahen wie die Arme der Puppe von gestern. Die Riesen waren uralt, gutmütig und blind; ihre anmutigen, bedeutungsvollen Gesten richteten sich an geheimnisvolle Wesen, die diese Sprache einst verstanden hatten, aber längst ausgestorben waren. Die blinden Bäume wussten nicht, was geschehen war, und gestikulierten ebenso eifrig wie vor Millionen Jahren.
    Ariels Prognose bewahrheitete sich, T. verbrachte tatsächlich den ganzen Tag im Sattel. Als die Sonne sich im Westen neigte, machte er halt an einer kleinen Bahnstation, um sich auszuruhen und in der Bahnhofsgaststätte einen Happen zu essen.
    Der Bediente, ein flinker Bursche, dem ein Bleistift aus der Tasche seiner fettigen Schürze ragte, musterte den jungen Oberst der Gendarmerie aufmerksam und konsultierte dann ungeniert ein gefaltetes Stück Papier.
    »Vermutlich«, dachte T., »steht da eine Personenbeschreibung. Hier frage ich besser nicht nach Optina Pustyn, am Ende belügt man mich oder man stellt mir eine Falle …«
    Nach dem Essen rief er den Bedienten herbei.
    »Gibt es hier einen Telegrafenapparat?«
    »Ja«, sagte der Bediente. »Wünschen Sie, ein Telegramm aufzugeben?«
    »Nein«, ließ T. verächtlich fallen. »Ich versuchte nur herauszufinden, wie viel Zeit ich habe, mein Bester.«
    Der Bediente grinste, als hätte er den Scherz des Herrn nicht verstanden, aber an seinen rot angelaufenen Ohren erkannte T., dass er ins Schwarze getroffen hatte. Er warf einen Rubel auf den Tisch, ging hinaus auf den Hof, sprang auf sein Pferd und sprengte davon, ohne

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