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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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der Wald. Immer abweisender, immer verlorener rief von ferne der Kuckuck, immer düsterer klang der Räuber Nachtigall 8 im Geflecht der bemoosten Zweige. Drückende Feuchtigkeit hing in der Luft und bald schlug T.s Stimmung um.
    »Ja, Ariel könnte mein Schöpfer sein«, dachte er, während er sich durch das Unterholz der Nusssträucher zwängte. »Aber wieso glaube ich, dass mein Schöpfer gut ist? Da denkt man, ein Schöpfer ist etwas Erhabenes … Dabei kann jeder betrunkene Soldat zum Schöpfer neuen Lebens werden. Vielleicht bin ich nur das Ergebnis eines stümperhaften Versuchs? Ein unglücklicher Zufall? Oder wurde ich im Gegenteil eigens dafür geschaffen, unermessliches Leid zu erfahren und zu vergehen?«
    Ganz in der Nähe schrie krächzend ein alter Vogel. Der Schrei war unheimlich und komisch zugleich – wie das Bellen eines erkälteten Zwergpinschers, der sich vor einem Vierteljahrhundert im Wald verirrt, aber nichts vergessen und nichts dazugelernt hatte. T. grinste.
    »Mit so einem Lied«, überlegte er, »muss man vielleicht den Herrn dieses Ortes loben …«
    Es wurde allmählich Nacht. Von allen Seiten kroch die tiefblaue Wand der Dämmerung heran, in der die weitzweigigen Silhouetten der Bäume sich dunkel abhoben. T. legte die Hände an den Mund und schrie:
    »Ariel! Hör auf, mich zu quälen! Ich will dich sehen! Du hast versprochen, dich als der zu zeigen, der du in Wahrheit bist!«
    Plötzlich erhob sich ein Wind im Wald. Schnell hatte er eine solche Stärke erreicht, dass Blätter und trockene Zweige von den Bäumen flogen. Ein paar herumwirbelnde Zweige peitschten T. schmerzhaft ins Gesicht und er hielt schützend die Hände davor. Der Wind blies immer tosender – mit tausend Stimmen heulte und ächzte er ringsum, als beschwöre er den einsamen Wanderer in allen vergessenen Sprachen, das schreckliche Geheimnis, dem er so unvorsichtig nahegekommen war, nicht weiter zu suchen. T. musste sich an einer alten Espe festklammern, um sich auf den Beinen zu halten. Mit einem Mal legte sich der Wind ebenso unvermittelt, wie er begonnen hatte.
    T. ließ den Stamm los. Ringsum war es rabenschwarz, wie häufig vor einem Gewitter war es unglaublich schnell dunkel geworden. Aber es gab keinen Zweifel mehr, dass man ihn erhört hatte.
    In der Ferne flackerte ein seltsam weißbläuliches Licht zwischen den Bäumen. Kaum hatte T. es erblickt, als es erlosch, aber dann flammte es wieder auf und leuchtete so hell, dass die Schatten der Bäume am Boden zu sehen waren.
    T. befürchtete, das Licht könne ebenso unerwartet verschwinden, wie es aufgetaucht war, und eilte ihm entgegen.
    Das Licht stammte von einer an einem Ast hängenden würfelförmigen Laterne mit einer runden Glasscheibe, hinter der ein kurzes weißes Lichtband grellen Glanz verströmte – es war keine Petroleum- oder Karbidflamme, auch kein Elektrolichtbogen, sondern eine unbekannte Energie oder Substanz. Die Laterne leuchtete so hell, dass alles, was sich hinter ihr befand, zu kompakter Schwärze verschmolz.
    T. trat aus dem Lichtkegel und blieb stehen, um den Augen eine Pause zu gönnen. Als sie sich wieder an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er ein Zelt aus hellem Stoff. Davor wehte eine Flagge – das breite, weiße Fahnentuch mit den Buchstaben »A-L« flatterte in der Luft, obwohl es völlig windstill war. Es war ein so offensichtliches und so sinnloses Wunder, dass T. unwillkürlich die Stirn runzelte.
    Unentschlossen blieb er am Zelteingang stehen. Da flammte drinnen ein Licht auf.
    »Kommen Sie herein, Graf«, erklang eine bekannte Stimme. »Ich erwarte Sie schon lange.«

VII
    Von innen bot das Zelt einen merkwürdigen Anblick.
    Es erinnerte an eine Nomadenbehausung, nachgebaut von einem Bühnenbildner, dem die Fantasie prunkvolle, aber in den Details vage und spärliche Bilder eingegeben hatte. Da waren allerlei Teppiche, Läufer und Matten, buntbestickte niedrige Hocker, eigenartig geformte Kissen und eine gewaltige, schräg gekerbte, goldschimmernde Wasserpfeife. In der Mitte stand ein großes rundes Tablett mit Früchten und Getränken auf dem Boden und darüber hing eine Lampe, die ein ebenso grelles, lebloses Licht verbreitete wie die Laterne, die T. geblendet hatte.
    Neben dem Tablett lag seitlich aufgestützt ein Mann in einem dunkelblauen Kaftan und mit einer dunkelblauen Seidenmaske, die sein Gesicht fast vollständig verdeckte. Auf die Stirn der Maske waren die gleichen Buchstaben gestickt, die auch auf der Flagge

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