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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Bewohner.«
    »Was ist denn daran so schlimm?«, fragte T.
    »Wie bitte? Schließlich ist der Held eines Frauenromans vom göttlichen Standpunkt aus nicht weniger real als die Passagiere in der Metro, die diesen Roman lesen. Dabei ist die Figur im Buch vielleicht sogar realer als ein gewöhnlicher Mensch. Denn ein Mensch ist ein Buch, das Gott nur einmal liest. Aber ein Romanheld erscheint so oft, wie verschiedene Menschen diesen Roman lesen … Jedenfalls hat mein Großvater das behauptet.«
    »Haben Sie ihm geglaubt?«
    »Natürlich nicht – ich war schließlich ein vernünftiges sowjetisches Kind. Ich habe ihn gefragt, wenn ein Schriftsteller tatsächlich neue Wesen erschafft, wo und wie man diese denn anschauen kann.«
    »Und was hat er geantwortet?«
    »Mein Großvater machte sich offenbar tatsächlich Sorgen, dass ich Schriftsteller werden könnte. Also entschloss er sich zu einer Demonstration. Es war fast wie Hexerei: Mein Großvater nahm einen Band Shakespeare, riss vor meinen Augen eine Seite heraus, schrieb irgendwelche Zeichen an den Rand, verbrannte die Seite, löste die Asche in einem Glas Wasser auf und ließ mich dieses Wasser trinken. Danach setzte er mich mit dem Gesicht zur Wand auf einen Stuhl und befahl mir, die Augen zu schließen.«
    Ariel verstummte, gleichsam im Bann der bedrückenden Erinnerung.
    »Was geschah dann?«, fragte T.
    »Ich schlief ein und hatte einen merkwürdigen Wachtraum. Ich war Hamlet, und ich war real. Aber nicht richtig, nicht wie ein realer Mensch. Das war ein sehr ungewöhnliches Erlebnis, durch das ich erkannte, auf welche Weise ein literarischer Held aus dem Nichtsein entsteht und wieder dahin entschwindet.«
    »Haben Sie etwas anderes erlebt als das, was in dem Theaterstück beschrieben wird?«, fragte T.
    »Nein«, erwiderte Ariel. »Aber meine Gefühle und Gedanken im Zusammenhang mit den anderen Figuren waren unglaublich, unbeschreiblich klar. In meinen Repliken existierte ich als eine vielschichtige, tiefgründige Persönlichkeit. Doch wenn ich die Rolle verlassen wollte, stürzte mein Geist ins Nichtsein. Wenn ich mit Güldenstern oder Laertes sprach, erschien meine innere Welt als Hintergrund. Sobald ich aber das Handlungsgerüst verließ, befand ich mich im Leeren, im vollkommenen Nichts. Und wenn meine Gedanken wieder den im Text für sie vorgesehenen Pfaden folgten, wurde ich wieder lebendig. Verstehen Sie? In dieser winzigen Lebens- und Schicksalsspanne, die Shakespeare beschrieb, hat Hamlet tatsächlich existiert. Er hat tatsächlich gelebt. Aber nicht so wie ich.«
    »Und wo ist der Unterschied?«
    Ariel überlegte.
    »Da muss ich einen Vergleich zu Hilfe nehmen … Stellen Sie sich einen gezeichneten dreidimensionalen Gegenstand vor. Auf dem Papier erscheint er dreidimensional, in Wirklichkeit aber hat er nur zwei Dimensionen … Und hier gab es nur eine Dimension – die Abfolge der Zeichen, die mich wie ein Zauberspruch für einen Augenblick erschuf und sofort wieder zerstörte … Das war entsetzlich. Mein Großvater zwang mich zu mehreren solcher Experimente, um mir das ganze dunkle Grauen des Demiurgentums oder des ›Erschaffens‹ vor Augen zu führen.«
    »Und wie ging es aus?«
    Ariel fing an zu lachen. »Ich beschloss tatsächlich, Schriftsteller zu werden. Weil ich erkannt hatte, welch unglaubliche Kräfte der Mensch lenkt, wenn er mit einem leeren Blatt Papier ringt.«
    »Hat Ihr Großvater Ihnen die kabbalistische Kunst beigebracht?«
    Ariel schüttelte den Kopf.
    »Er hatte sich irgendwie in den Kopf gesetzt, dass ich nicht zum Schüler tauge. Ich habe einzig gelernt, eine Verbindung zum Helden eines Textes aufzunehmen. Aber selbst das hat nicht mein Großvater mir beigebracht. Ich konnte eine der Seiten fotografieren, bevor er sie verbrannte. Wissen Sie, er hatte um den gedruckten Text herum hebräische Buchstaben an den Rand geschrieben, entgegen dem Uhrzeigersinn. Als ich das Foto hatte, schrieb ich diese Buchstaben ab, verbrannte das Blatt, trank das Wasser mit der Asche und fiel in diese eigenartige Trance. Mein Großvater hatte mir die Tür zum Wunderbaren einen Spaltbreit geöffnet. Auch wenn es mir nicht gelang, sie weiter aufzustoßen, aber diesen Versuch konnte ich mühelos wiederholen. Am Anfang beobachtete ich die Romanhelden anderer Autoren, und später begann ich, mit meinen eigenen Erfindungen zu plaudern.«
    T. spürte, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat.
    »Moment mal … Wollen Sie sagen, dass auch ich eine solche

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